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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Rainer Maria Rilke (* 4. Dezember 1875 in Prag; † 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux, Schweiz; eigentlich: René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke) war Lyriker deutscher Sprache.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#91 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1920-09-04
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 304f.).
Personen Katzenstein, Nettie
Rilke, Rainer Maria
Mitzky, Dora
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie

4.9.20

An Tessa.

Der Abend ist mein träumerischer Genosse, der sich sehr sanft an mich schmiegt und zu leuchten beginnt in vielen Farben, die alle etwas Fernes haben und von leichten Schatten verhängt sind. Der Traum aber ist mein Freund.

Heute nacht war ich mit Euch in der Certosa di Pavia. Das heißt, ich wohnte mit Euch darinnen. Besaß ein kleines Haus für mich, besaß einen eignen Brunnen und einen eignen Garten, übersät von warmen Blumen. Und merkwürdig: Fliedersträuche blühten und zugleich Herbstastern, Kirschen blühten und ein Baum neigte sich, schwer von reifen Äpfeln. Ich trat über meine Schwelle. Ging Euch entgegen. Dora hell, den Kopf in den Nacken geworfen. Du etwas elegisch. Lehntest an einer Marmorsäule. (Warum nur? dachte ich. Sonst haßt sie doch „lebende Bilder“). Sagtest: Pater, beten Sie eine Messe. Ich besann mich, zog ein kleines Buch aus der Tasche und las mit einer Stimme, die im Rhythmus des stillen Säulenganges schwang, las, und als ich geendet hatte, sagte jemand (warst es du oder Dora): „Sie haben die Verse Rainer Maria Rilkes ‚In der Certosa‘ schön gelesen. Wir danken Ihnen.“

Ich wandte mich um –

Und plötzlich saßen wir zu dreien in einer Gondel und glitten nächtens durch Venedig.

Als wir dann auf der Dachterrasse eines Hauses saßen, sagte eine fremde Stimme: „Es sind die Fahrten des Condottieri.“ „Ich glaube fast, ich träume,“ flüsterte ich, „warum konnte ich nur zweifeln, so schön ist das Leben, so schön.“

Ich erwachte. Im Zellengang der Lärm des Morgens.

Brauche ich Dir zu sagen, daß ich reich durch diesen Tag ging?