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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#88 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1920-09-01
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 296).
Personen Katzenstein, Nettie
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie
Werke Die Wandlung

1.9.20

An Tessa.

Während ich hier schreibe, spielt man in Hamburg (zum ersten Mal) die Wandlung.

Ich kann nicht einmal meine eigenen Stücke auf der Bühne sehen.

Ich lache über meine Rührseligkeit – aber irgendein Schmerz ist doch dabei. –

Ich bin heute zum ersten Mal aufgestanden. Die Verletzung am Fuß scheint gut zu verheilen, aber der Arzt glaubt, daß eine Versteifung bleibt. Vielleicht wäre das bei Behandlung durch einen Spezialisten verhütet worden – ich sei eben im Gefängnis und nicht in Freiheit, meinte der Doktor.

Die Post brachte Deinen Brief. Nun seid Ihr im Süden. Ich lag lange auf meiner Pritsche und träumte – mit Euch. Venedig, Mailand, Rom, Neapel – Ihr Glücklichen! Ich bin mit Euch froh, daß Ihr in diesem Land meiner Sehnsucht sein könnt. Leben – Farben – Wärme – Sonne – oft muß ich die Zähne zusammenbeißen.

Nicht Angst haben, ich lasse mich nicht unterbekommen, ich zerbreche nicht. Diese Gewißheit habe ich längst: Gefängnismauern werden mich nicht zerbrechen.

Draußen: Blut – Mord – Qual – Hunger – Not der Millionen. Das drückt viel schwerer. Und die Ahnung um das Schicksal Europas in den nächsten Jahrzehnten.

Die unfaßbare Gewalt, die zu dem einen furchtbaren Weg führt. Könnte ich nur wie früher an Neugeburt, an reineres Werden glauben.

Menschheit – immer hilflos, immer gekreuzigt.

Gerechtigkeit – ein bitterer Geschmack ist auf meiner Zunge.

Ich habe an die erlösende Kraft des Sozialismus geglaubt, vielleicht war das meine „Lebenslüge“, vielleicht …

Der Sozialismus. Die neue notwendige Wirtschaftsgestaltung, ist das nicht genug! Ein gigantisches Werk. Und der Mensch? Und der Mensch? Wund bin ich und zerwühlt.

Diese Krise hätte ich überwinden müssen, sie ist keine „Schwäche“, keine „Folge der Haft“. –

Im grauen Steinbau ist es sehr kalt.

Der Himmel meint es nicht gut mit uns: es regnet schon seit Tagen.

Ich grüße Euch und bin Euch nahe. Und wenn ich es manche Stunden nicht bin – Einsamkeit liegt ja nicht jenseits eines Abgrunds, in Einsamkeit erwachen neue Wege, wie Menschen wachwerden, die auf einer Wiese eingeschlafen sind und mit schönem Lächeln um sich blicken.