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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#383 Brief an K.

Datierung *zwischen 1924-01-01 und 1924-07-15
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 404).
Personen K.
K.
Toller, Ernst

An K.

Ich lebe seit Jahren eng beieinander mit Proletariern, denn könnte man enger beieinander leben, als auf einem Zellengang zusammengepfercht zu sein. Ich lerne die Proletarier kennen, wie ich es draußen nie gekonnt hätte. Draußen sieht man nur die Oberfläche eines Menschen, fast nie sieht man ihn nackt. Und gerade weil ich den nackten Proletarier gesehen habe, erkenne ich den gefährlichen Selbstbetrug der Schriftsteller, die proletarische Bildungsarbeit zu leisten meinen, indem sie „O heiliger Proletarier, o göttlicher Prolet, du bist das Kind der Gerechtigkeit, der Liebe, der Reinheit“ – rufen und unter heftigen Kotauen proletbyzantinisch sich gebärden.

Der Proletarier ist in höherem Maße als der Bürger von Trieben bewegt. Aber auch in höherem Maße zu beeinflussen. Zu beeinflussen nur durch eine Kunst, die sein Leben, sein wirkliches Leben gestaltet. Er muß sich sehen, sich in seiner seelischen Roheit, seiner Vergewaltigungsgier, seiner Hilflosigkeit, seiner Schwäche, seiner Feigheit, seiner Verzagtheit, seiner Untreue gegen sich und die Sache, sich in seinem Mute, seiner heroischen Haltung, seinem Traum.

Er muß sich reden und überreden, klagen und anklagen, lachen und verlachen hören. Ecce Proletarier! Dieses Gefühl muß ihn erschüttern, wenn das Kunstwerk ihn ergreifen soll.

Und er muß lernen, Feste zu feiern. Wenn wir durch unsere Arbeit seine seelischen und geistigen Kräfte nicht entfalten, nicht jene feinen, verästelten Beziehungen schaffen, die die Menschen an eine Idee, ein Werk binden, dann werden wir wohl Parteigruppen züchten, nie aber Gemeinschaften sehen. Täuschen wir uns nicht, die Folgen des „Stahlbades“: Demoralisation, Korruption, Mißachtung des Lebens in aller Form, haben auch weite Schichten des Proletariats infiziert.

Manchmal sehe ich den Weg ins Dunkel münden … dennoch.