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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Johann Christian Friedrich Hölderlin (* 20. März 1770 in Lauffen am Neckar, Herzogtum Württemberg; † 7. Juni 1843 in Tübingen, Königreich Württemberg) war ein deutscher Lyriker.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#364 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1924-04-09
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 407f.).
Poststelle -
Personen Katzenstein, Nettie
Hölderlin, Friedrich
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie

9.4.24

An Tessa.

Vor mir stehen die Blumen – wenn ich die Augen schließe und den süßen Duft der Mimosen atme, bilde ich mir ein, ich läge wunschlos in mittaglicher Stunde in Eurem Garten, hörte Eure Stimmen im nahen Haus. –

Vor zehn Tagen schmolz im Hof der letzte Schnee, nun endlich, endlich scheint warme Frühlingssonne. Junges Grün sproßt, erste Gänseblumen wagen sich hervor, an den Bäumen die Knospen schwellen wunderbar. Vor vier Tagen hatte eine Knospe die braune zähe Hülle gesprengt, vor drei Tagen warens schon vier, heute schläft eine noch ihren Winterschlaf. Ganz feine, samtne rosa Spitzen bekommen sie, und wenn man sie anfaßt, faßt man eines Mädchens kleine Brust.

Gestern sah ich das erste Schwalbenpaar. Lerchen jubilieren schon seit Wochen trotz Kälte, Nebel, Regen.

Mit wieviel Vögeln ich hier lebe! Morgens, bevor wir auf den Hof gehen, wippen darin Elstern. Am Tage kommen Amseln, Distelfinken, Buchfinken, Emmerlinge, Bachstelzen, Stieglitze, Rotschwänzchen und natürlich viele, viele Spatzen. (Ich beobachtete, wie verschieden der Spatzen Gestalt ist: die einen dick, rundlich, plump, andere von bezaubernder Grazie.)

Und in den Lüften Falken (die im nahen Kirchturm hausen), spielende Krähenschwärme, Dohlenschwärme.

Am Freitag bekamen wir merkwürdigen Zuwachs. Ein Freund hatte im vorigen Sommer Raupen in seine Zelle mitgenommen, die verpuppten sich und siehe da: aus einer kroch der schönste Kohlweißling. Ihn scherte nicht Paragraph und Gitter, er sagte der Gefangenschaft ade.

Ich lese in Hölderlins Hyperion: „Es gibt ein Vergessen allen Daseins, ein Verstummen unseres Wesens, wo uns ist, als hätten wir alles gefunden. Es gibt ein Verstummen, ein Vergessen allen Daseins, wo uns ist, als hätten wir alles verloren, eine Nacht unserer Seele, wo kein Schimmer eines Sterns, wo nicht einmal ein faules Holz uns leuchtet.“