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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Hermann Fleißner (* 16. Juni 1865 in Dresden; † 20. April 1939 in Berlin) war ein sozialdemokratischer Politiker.

Max Otto Ziller (* 10. Juli 1875 in Freiberg; † nach 1939) war ein deutscher Politiker (Deutsche Reformpartei, DNVP) und von 1919 bis 1926 Mitglied der Sächsischen Volkskammer bzw. des Sächsischen Landtages.

Fritz (Friedrich) Kaiser (* 22. März 1877 in Langenchursdorf; † 10. September 1956 in Füssen) war ein deutscher Jurist und Politiker (DVP).

Wilhelm Ferdinand Paul Wiecke (* 30. Oktober 1862 in Elberfeld; † 18. Dezember 1944 in Blankenburg (Harz)) war ein deutscher Schauspieler, Regisseur und Schauspieldirektor.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#353 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1924-02-23
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 401-403).
Poststelle -
Personen Katzenstein, Nettie
Wobst, Fritz
Fleißner, Hermann
Ziller, Max Otto
Kaiser, Friedrich
Wiecke, Paul
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie
Werke Der deutsche Hinkemann
Der entfesselte Wotan

23.2.24

An Tessa.

Vor zwei Tagen hat der Landtag seine Auflösung beschlossen. Damit habe ich mich gleichfalls aufgelöst, bin des Mandats, der Ehre und Würde ledig. Immerhin ein Kuriosum: Abgeordneter gewesen zu sein, ohne je an einer Sitzung des Hohen Hauses teilgenommen zu haben. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei forderte mich auf, bei den neuen Wahlen für Land- und Reichstag die Spitzenkandidatur zu übernehmen. Ich lehnte ab. –

Lasest Du von den letzten Theaterskandalen anläßlich der Aufführungen von Hinkemann in Dresden und in Wien? In Dresden ward der Skandal, wie der Kultusminister im Landtag sagte, Wochen vorher von Hakenkreuzlern vorbereitet. Man hatte sogar in außersächsischen völkischen Kreisen Geldmittel für die Inszenierung des Skandals gesammelt. 800 Eintrittskarten waren von den Regisseuren gekauft und an Sprengkolonnen verteilt worden. In der „Jungen Gemeinde“ erzählt Wobst, was sich am 17.1. zutrug: „Das Haus ist ausverkauft. Das Spiel beginnt. Eine der Personen des Stücks, Paul Großhahn spricht: Ich bin Atheist. Und siehe: die Dresdener sind keine Atheisten. Der Frevel dieses großschnauzigen Proleten muß mit einem energischen ‚Pfui‘ bestraft werden. Und mit Pfeifen. Das Theater beginnt. Das richtige Theater. Auf der Bühne spielt man nur nebenbei, nur so als Anregung und Anfeuerung fürs eigene Theater. Im Sitzen kann man nicht spielen. Man muß mit den Armen fuchteln und brüllen muß man, lauter als sein Nebenmann, daß der gleich dabei stirbt. (Ein Berliner Bankprokurist wurde vom Schlag getroffen und starb.) Oder man muß pfeifen. Auf Fingern oder auf Trillerpfeifen. Man muß seinem Nachbarn ein paar runterhaun. Ihn einen elenden Lumpen nennen. Aber – man muß sich wieder einigen zum energischen Schlag, man muß singen. Aus rauhen Männerkehlen im begeisterten Chorus ‚Deutschland über alles‘. Drei Verse. Als Anhang: ‚Die Wacht am Rhein‘. Die Kräfte sind ein wenig verbraucht. Man läßt die Schauspieler wieder einige Worte sprechen. Bis wieder ein Stichwort kommt, das sie sticht. Und sie brüllen. Dann macht man allemal das Licht aus, und die Schauspieler warten. Man pfeift, trampelt, zischt, brüllt, klatscht, singt wieder. Die Einen brüllen, weil das ein elendes, schmutziges, unsittliches undeutsches Machwerk ist. Die Anderen brüllen, weil sie protestieren gegen das Brüllen jener. Hilfe kommt. Die Polizei tritt auf. Mit milder Hand werden einige Wenige nach außen befördert, die dann unten zur nächsten Tür wieder hereinschleichen. Die Einen klatschen, die Andern zischen. Dann wird wieder ein Stückchen gespielt. Nach Stunden hat man zwei Akte zu Ende gebracht … Die Dresdener lauern wie Spitzel auf die verfänglichen Stellen. Die Dresdener sind sittlich so feinfühlig, daß sie auf das Wort ‚Huren‘ einen Hagel Pfuirufe loslassen … Mit unendlicher Kraft haben die Schauspieler das Stück zu Ende geführt. Kaum war der Vorhang herunter, füllte ein wüster Lärm das Theater. Vor dem Theater, in strammer Haltung eine Hundertschaft Polizisten.“

Gleich nach der Vorstellung richtete ein deutschnationaler Abgeordneter Ziller an die Regierung die Anfrage, wie dieses größte Schmutzwerk, mit dessen Aufführung die Leitung der Staatstheater die deutsche Bühne entehrt habe, angenommen werden konnte. Er forderte die Regierung auf, das Stück sofort abzusetzen.

Ein Rattenschwanz von Anfragen folgte. Die guten Demokraten erhoben gegen den Skandal Einspruch, „ohne zur Tendenz und zum künstlerischen Wert des Stückes Stellung zu nehmen“. Die Sozialdemokraten protestierten, die Kommunisten protestierten. Im Landtag redete der Minister. Es redeten die Parteivertreter. Sie redeten so lange, bis sich im Haus noch 5 (fünf) Abgeordnete befanden. Der Minister erklärte, er werde das Stück nicht verbieten. Bravorufe von links belohnten ihn. Er hatte es leicht mit der heroischen Geste. Das Stück war schon vom Spielplan abgesetzt. Als nämlich eine zweite Vorstellung angesetzt wurde, zu der sich die Hörer einzeichnen mußten, rüsteten die Hakenkreuzler zu neuem Feldzug. In der Stadt wurden Flugblätter verteilt, die Schauspieler mit Drohbriefen überschüttet. Man drohte, sie von offener Bühne herunterzuschießen. Die Schauspieler, der Direktor, die Minister erschraken – und die Hakenkreuzler hatten gesiegt. Beachtlich, wie sämtliche Nachrichtenbüros bemüht waren, den Skandal auf ihre Weise darzustellen. Der Leser mußte glauben, daß es sich um eine spontane Kundgebung fast aller Hörer handelte. (Ich habe die Ausschnitte gesammelt.)

Man begnügte sich nicht mit dem Feldzug gegen das Stück, es wurden in Dresden sogar Listen ausgelegt, in die sich alle die einzeichneten, die die Absetzung des Schauspieldirektors verlangten.

In Wien mußten die Arbeiterwehren einen Sturm der Hakenkreuzler auf das Raimund-Theater abwehren.

Es traf ein, was ich voraussah: Das neue Theater in Frankfurt erklärte sich außerstande, „Wotan“ in diesem Winter aufzuführen, das Deutsche Theater in Berlin erklärte sich außerstande, „Hinkemann“ zu spielen.

Immerhin sind die, die mein Werk angeht, um so aufmerksamer geworden. Jeden Tag bringt mir die Post Briefe von Menschen aus allen Kreisen. Neulich erfuhr ich, daß mir sogar ein kleiner Krämer Freund ist. Ich bestellte bei ihm Schreibmaschinenpapier. Als der Krämer hörte, das Papier sei für mich bestimmt, erklärte er: „Von E. T. nehme ich kein Geld.“

Und in Bautzen errichteten junge Burschen und Mädels ein Gemeinschaftshäuschen, darauf sie schrieben:

„Zu Ehren eines Dichters,

Den nur wenige heute kennen,

Wollen wir dieses Häusl,

Ernst Toller-Häusl nennen.“