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August Hagemeister (* 5. April 1879 in Detmold; † 16. Januar 1923 in Niederschönenfeld) war ein deutscher Politiker (SPD/USPD/KPD). Er war Abgeordneter des Bayerischen Landtages (1920–1923).

Erich Kurt Mühsam (6. April 1878 in Berlin – 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg) war ein anarchistischer deutscher Schriftsteller, Publizist und Antimilitarist. Am 10. Juli 1934 von der SS-Wachmannschaft des KZ Oranienburg ermordet.

Adolf Schmidt (* 12. September 1886 in Neunkirchen (Saar); † 28. April 1980 in Penzberg) war USPD/KPD-Abgeordneter des Bayerischen Landtags von 1920 bis 1924, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und KZ-Häftling.

Georg Eisenberger, genannt der Hutzenauer (* 28. März 1863 in Hutzenau; † 1. Mai 1945 in Ruhpolding) war ein deutscher Politiker des Bayerischen Bauernbundes.

Franz Gürtner (* 26. August 1881 in Regensburg; † 29. Januar 1941 in Berlin) war ein deutscher Jurist, der von 1932 bis zu seinem Tod 1941 Reichsjustizminister war.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#338 Brief an B.

Datierung 1923-??-??
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 371–374).
Poststelle -
Personen B.
Hagemeister, August
Steindl, ?
Mühsam, Erich
Schmidt, Adolf
Eisenberger, Georg
Luttner, Alois
Luttner, Ferdinand
Hoffmann, Heinz
Gürtner, Franz
B.
Toller, Ernst

Beschlagnahmter Brief

An B.

In einer der ersten Nächte des Januar 1923 hörten wir aus der Zelle August Hagemeisters Hilferufe. August Hagemeister hatte seinen ersten schweren Herzkrampf. Der unzulänglich ausgebildete „Sanitätsaufseher“ erschien nach ungefähr einer Stunde. Die Mitgefangenen durften nicht, wie sie es wünschten, Hagemeister Hilfe leisten.

Am anderen Tag vormittags konsultierte August Hagemeister den Anstaltsarzt Dr. Steindl, der nie aus seiner antisozialistischen Gesinnung Hehl gemacht, der immer als Strafvollzugsorgan sich gefühlt, und den darum Hagemeister, wie ich selbst, jahrelang nicht um ärztlichen Rat gefragt hatte. Herr Steindl stellte Erkältung fest und verschrieb Einreibemittel.

Am nächsten Sonntag erfolgte ein zweiter, mit heftigen Schmerzen verbundener Krampf. Hagemeisters Gesicht verfärbte sich, wir fürchteten, er stürbe noch in jener Stunde. Und da kein Arzt in der großen Anstalt wohnte, Steindl nicht sofort zu erreichen war, vergingen zwei Stunden, bis Herr Steindl erschien. Eine kurze Untersuchung, dann verließ er, puterrot, über die Störung seiner Sonntagsruhe sichtlich wütend, die Zelle. Jemand fragte ihn ängstlich, was Hagemeister fehle. „Garnichts,“ war die schroffe Antwort.

Immerhin wurde Hagemeister, was ihm vorher verboten war, erlaubt, sein Bettuch am Herd wärmen zu lassen und es auf die Brust zu legen. Der Kranke war sehr erregt: Steindl habe ihm bedeutet, er übertreibe und simuliere.

Eine Stunde nach dem Besuch des Arztes kamen Aufseher in Hagemeisters Zelle und brachten ihn in eine Einzelzelle im ersten Stockwerk. (Erklärung: Die Mitgefangenen seien es, die Hagemeister beunruhigten und aufhetzten …)

In eine Einzelzelle, nicht in ein Krankenzimmer. Denn es gab, obwohl die Festungsanstalt Niederschönenfeld schon vier Jahre existierte, in Niederschönenfeld keine Krankenabteilung.

Wie fadenscheinig die Erklärung, wir anderen Gefangenen würden Hagemeister „beunruhigen“! Nur wer selbst Gefängnis erlebt hat, kann ermessen, was in Tagen der Krankheit Hilfe des Kameraden, ja, Nähe des Kameraden bedeutet.

Am 8. Januar erlaubte man Erich Mühsam, die Frau Hagemeisters zu benachrichtigen. Der Arzt hatte inzwischen zugegeben, daß Hagemeister krank sei. Ihm fehle zwar nichts Gefährliches, auch nichts am Herzen, aber er habe eine leichte Rippenfellentzündung. Hagemeister, der den Tod nahen fühlte und immer wieder aufs dringlichste bat, man möge ihn doch in ein Krankenhaus überführen, hatte sehnlich den Besuch seiner Frau gewünscht.

(Einmal gelang es Hagemeister, der allmählich die Gewißheit bekam, daß man ihn hilflos sterben lasse, die Zensur zu umgehen und einen Zettel an seine Frau hinauszuschmuggeln. Hier das Dokument:

„Du hast alles gesehen und gehört. Sie wollen mich hier langsam zu Grunde kurieren. Du gehst Dich mit Hans besprechen. Ihr geht dann zu A. Schmidt oder zu Eisenberger. Die sollen fragen, warum ich nicht zur Behandlung ins Krankenhaus komme und die Art, wie ich hier behandelt werde, bekanntgeben. Du selbst gehst mit einem Rechtsanwalt zum Justizminister und verlangst meine sofortige Verlegung in ein Krankenhaus. Was ich Dir erzähle und hier schreibe, genau behalten und beachten. Die Krankheitssache erzähle ich mündlich. Das Wichtigste ist, was ich Dir hier schreibe. Vier Nächte habe ich, von Schmerzen gepeinigt, in einem Korbstuhl im Dunkeln gesessen. Freunde nahmen sich meiner tagsüber an, indem sie mir durch warme Umschläge, Einreiben und Sorge für Bequemlichkeit Erleichterung verschafften. Da erlitt ich am fünften Tag einen rasenden, fast eine Stunde währenden Schmerzanfall. Ich schrie und brüllte, meine Freunde hielten mich an den Händen. Da es einige Zeit dauerte, bis der Heilgehilfe der Anstalt kam, mein Zustand nicht nachließ, wurden meine Freunde begreiflicherweise unruhig. Als dann der Herr Bezirksarzt kam, ordnete er, trotz meines Einspruches meine Verbringung in die Krankenstube (!) der Anstalt an. Der Arzt sagte bei der Gelegenheit: ‚Bei der Geistesverfassung der Festungsgefangenen kann man es nicht jedem recht machen.‘ Am Nachmittag wurde ich dann in die erwähnte Krankenstube geführt. Dies ist ein wieder zur Gefängniszelle gemachter Käfig, mit den auch hierfür unzulässigen Raummaßen des jetzt leeren Stockes der Anstalt. Als ich eintrat, war der Raum eiskalt. Bett an der Wand, Abortkübel in der Ecke, sonst gähnende Leere. In der ersten Nacht hatte ich eine Nachtwache vor der Tür. Diese wurde in der zweiten Nacht durch einen leeren Blindgänger ersetzt, den man mir auf den Tisch an der Wand stellte, mit der Anweisung, wenn ich Hilfe oder sonst etwas bedürfe, solle ich an diesen Behälter mit der Klinge eines Messers klopfen, das halle durch das ganze Haus, und es komme sofort jemand.

Unter der Krankenstube arbeiten Gefangene an einem Webstuhl. Das Stoßen, Surren und Hämmern geht um 7 Uhr in der Frühe an. Der Arzt meinte bei seinem Besuch naiv: Da drunten klopft wohl ein Festungsgefangener? Bis ich ihn aufklärte. Nun ist natürlich auch das für einen Kranken weiter nicht störend. Dagegen hält der Arzt jeden, auch den kürzesten Besuch meiner Freunde für meinen Zustand für bedrohlich. Mir wurde verwehrt, daß ich einem meiner Freunde einen Brief an meine Familie diktieren konnte.

Ich bin wie ein zu Einzelhaft Verurteilter abgesondert. Der Arzt scheint sich von diesem Mittel seiner Praxis die größte Wirkung zu versprechen. Deutete er doch an, daß sich die Herren durch fortwährendes Beisammensein meistens nur einreden, daß sie krank seien. Sonst lasse ich mir Einreibungen machen und schiebe die Wärmflasche von einer Stelle zur anderen, immer dem flüchtigen Übel folgend. Doch der Zustand will nicht besser werden. Verbringe die Tage und Nächte schmerzvoll, mal im Bett, mal im Stuhl hockend. Ich bitte dich, sorge Dich, damit ich recht bald in geeignete Krankenbehausung und erfolgversprechende Behandlung komme.

Liebe Frau! Dies hat Dir Dein Mann natürlich alles bei Deinem Besuch erzählt; Du weißt schon weshalb, das sollen auch die beachten, mit denen Du darüber sprichst.

Erst gestern mittag hatte ich einen krampfhaften Anfall zu überstehen. Es waren gleich Leute da, doch passiert mir das in der Nacht, dann bin ich nicht in der Lage, den Alarmapparat in Bewegung zu setzen und muß infolgedessen ohne Hilfe bleiben. Ich bitte Dich, darauf zu drängen, daß der Staat, der mich gefangen hält, dafür sorgt, daß ich das Leiden wieder los werde, das ich mir in seinem eigenen Kerker zugezogen habe.

Schlage Lärm und gib nicht nach, bis Du Erfolg erzielst, handle sofort! Laß diesen Zettel nicht in Deiner Wohnung, wenn Du gehandelt, verbrenne ihn.“)

Am Dienstag, den 16. Januar, morgens um 7 Uhr wurden zu unserem Erstaunen Mühsam und Luttner zum Festungsvorstand gerufen. Im Büro erwartete sie Herr Hoffmann: „Ich muß Ihnen die traurige Mitteilung machen, daß Ihr Mitgefangener August Hagemeister in dieser Nacht sanft entschlafen ist.“

„Sanft entschlafen!“

Bald hatten wir erfahren, unter welchen Umständen!

Offensichtlich waren alle Beamten im Hause bestürzt und ängstlich. Keiner verbarg sein schlechtes Gewissen. So kam es, daß man uns erlaubte, einzeln von unserm Freunde Abschied zu nehmen.

Im Lehnstuhl der kahlen Zelle, den ihm ein gefangener Freund aus seiner Zelle geschickt, saß August Hagemeister. Das gute Gesicht des 44-jährigen Mannes war auf die Brust gesunken. Die eine Hand lag verkrampft auf dem Klapptisch neben der leeren Granate, neben dem trockenen Brotlaib, die andere Hand fiel in unendlich hilfloser Gebärde von des Lehnstuhls Stütze.

Bild, das sich mir eingrub, das mich mahnen soll, so lange die Schmach dieser Justiz lebt.

Was war geschehen? Am Morgen um sieben Uhr, als der Aufseher die Tür aufschloß, fand er Hagemeister tot in seiner Zelle. Er war nachts aufgestanden, da er vor Schmerzen nicht liegen konnte, hatte sich in den Lehnstuhl gesetzt und starb dort in letzter Verlassenheit.

Welches „Verbrechen“ hatte den Arbeiter August Hagemeister in die Festung geführt? Vor Ausrufung der Räterepublik waren, im Einverständnis mit Mitgliedern der Regierung Hoffmann, die später die Räterepublik niederschlugen, Männer, unter ihnen Hagemeister, in verschiedene bayrische Städte gefahren, um dort die Stimmung zu erkunden und Vorbereitungen für die Ausrufung der Räterepublik zu treffen. Hagemeister hielt in Würzburg eine Rede (das war seine hochverräterische Tat), dann verhaftete man ihn. Der Staatsanwalt beantragte gegen ihn die Todesstrafe, das Gericht verurteilte ihn zu 10 Jahren Festung.

Ich erstattete noch am Tage des Todes gegen den Arzt Steindl beim Staatsanwalt in Neuburg Anzeige wegen fahrlässiger Tötung und benannte eine Reihe von Zeugen, die man niemals vernahm. Am 24. Januar bekam ich den Bescheid, daß meinem Antrag auf ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung nicht stattgegeben wird. Kurze Zeit später wurde Dr. Steindl durch eine Beförderung ausgezeichnet.