Weitere Briefe
1,665 Briefe gefunden

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#310 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1923-06-30
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 385).
Personen Katzenstein, Nettie
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie

30.6.23

An Tessa.

Fünf Wochen (fünf Wochen!) hatten wir mitten im Sommer keine Sonne. Der Himmel war verhangen von jenem Grau, das den ganzen Winter über auf uns lastete, tagelang regnete es, Nebel hüllte die Landschaft ein, und es fror uns jämmerlich. Ich mummelte mich meistens in meine Decke, legte mich aufs Bett und versuchte zu lesen. Gerade an einem Tag, an dem mein ganzer Körper klamm war von der Kälte dieses steinernen Baues, kam Dein Brief, der mit den Worten begann: „Ich sitze auf einer Kirchplatzmauer in glühende Sonne getaucht …“ Erst seufzte ich und verkroch mich tiefer ins Bett. Dann schloß ich die Augen und siehe da, auch ich saß in glühende Sonne getaucht … Seit fünf Tagen will uns der Himmel wohl und läßt uns wenigstens ein paar Stunden am Tage von wärmender Sonne bescheinen. Ein Aufatmen ging durch die gefangenen Menschen, die Leiber strafften sich, das Gallige, Verbitterte im Ausdruck der Augen verschwand wieder. Herrscht draußen schlechtes Werter, herrscht drinnen auf dem Gang und in den Zellen die tiefe Gereiztheit ohnmächtiger Menschen, die sich entlädt in jähem Schelten und Keifen, in giftigen Beschimpfungen des Nächsten. Am tiefsten kann ein Mensch den andern hassen, nicht wegen seines Tuns, nicht wegen seines Lassens, sondern wegen seines Daseins. –

Die Schwalben sind wieder da. Ein ander Mal will ich Euch von ihnen erzählen.