Stefan Zweig (* 28. November 1881 in Wien; † 23. Februar 1942 in Petrópolis, Bundesstaat Rio de Janeiro, Brasilien) war ein österreichischer Schriftsteller.
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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.
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#299 Brief an Stefan Zweig
Datierung | 1923-06-13 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 381f.). |
Personen |
Zweig, Stefan
Toller, Ernst Zweig, Stefan |
Werke | Der deutsche Hinkemann |
13.6.1923
An Stefan Zweig.
Ich muß in großer Dankbarkeit von den Worten sprechen, die Sie für „Hinkemann“ fanden. Ich habe das Werk in einer Zeit geschrieben, in der ich, schmerzhaft, die tragische Grenze aller Glücksmöglichkeiten sozialer Revolution erkannte. Die Grenze, jenseits der die Natur mächtiger ist als menschliches Einzelwollen und gesellschaftliches Wollen. Darum wird Tragödie niemals aufhören. Auch der Kommunismus hat seine Tragödie. Immer wird es Individuen geben, deren Leid unlösbar ist. Und gibt es ein Individuum, dessen Leid nie enden kann, ist die Tragik des einen Individuums gleichzeitig die Tragik der Gesellschaft, in der es lebt. Die Antike kannte den prometheischen Helden, der glaubte, das Schicksal bezwingen und alles Leid aufheben zu können; in unserer Zeit ist an die Stelle des einzelnen Helden eine ganze Klasse getreten. Ich sage das nicht aus Resignation. Nur der Schwache resigniert, wenn er sich außerstande sieht, dem ersehnten Traum die vollkommene Verwirklichung zu geben. Dem Starken nimmt es nichts von seinem leidenschaftlichen Wollen, wenn er wissend wird. Not tun uns heute nicht die Menschen, die blind sind im großen Gefühl, not tun uns, die wollen – obwohl sie wissen.
Das Absolut-Gute, das „Paradies auf Erden“ wird kein Gesellschaftssystem schaffen, es handelt sich einzig darum, für das relativ beste, das der Mensch finden und verwirklichen kann, zu kämpfen. Ein System, das auf sozialer Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Unfreiheit ruht, kann vor der Vernunft nicht bestehen.
Auf eine theatralische Wirkung des Werkes verzichte ich nicht. Ich glaube, daß gerade durch die Mischung von Lächerlichkeit und Tragik den Hörer eine Ahnung von der Antinomie lebendigen Geschehens überkommt.
Sorgen Sie sich nicht um mich, lieber verehrter Stefan Zweig. Ich verfluche diese Zeit und segne sie doch. Ich weiß nicht, ob ich draußen den Stimmen hätte lauschen können, denen ich hier lauschen durfte.
Daß sich einmal ereignen könnte, was Sie fürchten: Erschrecken vor der Welt und Sehnsucht nach dem Kerker, glaube ich nie und nimmer. Alte Zuchthäusler, die Jahrzehnte im Zuchthaus verbracht haben und Greise geworden sind, sehnen sich wohl nach dem Zuchthaus. Aber nur darum, weil ihr Rückgrat gebrochen, ihre Spannkraft zermürbt, ihre Vitalität gelähmt wurde. Denken Sie nur daran, was dem Gefangenen unerreichbares Wunder ist: Wald, Musik, Frauen, See, Abend im Freien, Landstraße, sommerliche Felder, Birken, nächtliche Stunden gesammelten Arbeitens, Fenster, die nicht verwunden, Meer, nächtliche Weite des gestirnten Himmels … Die Millionen Klänge, Bilder, mit denen das Leben den freien Menschen beschenkt. Unfreiwilliges Eingesperrt-sein und Sich-absperren aus freiem Willen – zwei Kategorien, die unvergleichlich sind.
Wohl glaube ich, daß, wer einmal lange Zeit Gefangener war, Einsamkeit eher braucht, als wer Gefangenschaft nie kannte. (Ich sehne mich mehr nach Stille in Freiheit, als nach Lärm in Freiheit.)