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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#295 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1923-05-27
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 378–380).
Personen Katzenstein, Nettie
Toller, Ida
Cohn, Erich
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie

27.5.23

An Tessa.

Ich werde zum Regierungsrat gerufen. In seiner Hand erblicke ich ein Telegramm. „Sie haben schon längere Zeit keine Nachricht mehr von Ihrer Mutter erhalten?“ Ich starre ihn an. „Meine Mutter ist …“ – „Nein, beruhigen Sie sich, das Schlimmste ist bisher nicht eingetreten.“ – „Sagen Sie mir …!“ – „Ihr Schwager hat uns telegraphiert. Der Zustand Ihrer Mutter ist sehr ernst. Er bittet für Sie um Urlaub. Ich bin nicht berechtigt, Ihnen Urlaub zu erteilen. Ich rate Ihnen aber, sofort ein Gesuch ans Ministerium aufzusetzen; ich verspreche, es mit der nächsten Post zu befördern.“ – Ich gehe nach oben. Die alte Frau im Sterben. Vielleicht in dieser Stunde … Vielleicht tot. Und wenn sie noch lebt, wie mag sie danach jammern, einmal, einmal mich zu sehen, zu sprechen, zu umarmen. – Fiebernd schicke ich Telegramme ans Ministerium, an Dr. H., an den Landtag. Das Gesuch zu schreiben bin ich nicht fähig, ein Kamerad entwirfts, ich schreibs ab, schick es hinunter.

Auch von Hause war ein Gesuch ans Ministerium unterwegs, telegraphisch begleitet vom Gutachten des amtlichen Arztes. Vielleicht liegts dem Justizminister schon vor, vielleicht ist gar, während meine Gedanken einander jagen, der Bescheid schon unterwegs, vielleicht geht in diesem Augenblick der Festungsvorstand zum Zellengebäude hinüber, um mir mitzuteilen … daß ich fahren darf, sofort … Daß ich die Mutter noch lebend erreichen kann … Daß ich sie zwar nicht mehr lebend sehen werde, man hats mir verheimlicht, um mich zu schonen, daß ich ihr aber das letzte Geleit geben dürfe … daß … Meine Schläfen pochen. Ich packe mit Hilfe von Freunden einige Kleidungsstücke zusammen, leih mir einen kleinen Koffer, tu alles hinein, leg meinen Anzug, meine Wäsche bereit – bis abends spätestens wird die Antwort vom Justizministerium da sein …

Das Warten beginnt. Das Warten: betastet, zersetzt, verwundet von tausend Vielleicht, die von andern tausend Vielleicht überwältigt werden. Das Warten der Ohnmacht. Das Warten des Gefangenen. Der Abend kommt. Keine Nachricht.

Eine Nacht kriecht langsam heran, hüllt mich in die schwarzen Tücher der schweigenden Umarmung. Sanfte Tücher, die alle Spannung lösen. Dann aber starr werden, immer starrer, in einen Sarg sich wandeln, der zu eng ist, zu niedrig, der die Brust eindrückt, die Glieder bricht. –

Nacht unendlicher Folterungen. Der nächste Morgen. Schwer von zielloser Müdigkeit. Keine Nachricht. Wieder eine Nacht. Wieder ein Tag. Käme endlich eine Nachricht! Gleich welche? Gleich welche.

Das bin ich, der stirbt. Also zu spät. Also nicht. Jetzt kommt die Lethargie. Jetzt die Agonie. Da lieg ich im Bett in den letzten Zügen, und da steh ich vorm Bett und schau mir zu. Nein, das bin ich gar nicht, der mir zuschaut, das ist ja mein Vater. Im Hemd steht er da, Scherben schweben, wirklich schweben! vor seiner Brust, ein Schloß schwebt, wirklich schwebt! vor seinem Mund. Mein Vater ist doch schon tot seit dreizehn Jahren.

Am 4. Tag morgens ein Telegramm meines Schwagers „Zustand unverändert“. Kaum, daß ich mir noch Gedanken mache. Wieviel Stunden geht das schon so. Neunzig Stunden. Einundneunzig Stunden. 92. 93. 94. 95. 96. 97…

„Sie möchten ins Büro kommen.“

Der Herr Regierungsrat. Bescheid vom Ministerium. Mein Gesuch kann nicht berücksichtigt werden. Sachlich und lakonisch lautet die Entscheidung. Ich verziehe keine Miene. Von diesem Augenblick ist wie verweht, was die letzten Tage mich geschüttelt hatte. Eine entschlossene Ruhe kommt über mich, die mich auch nicht verlassen hätte, wäre die Nachricht vom Tod meiner Mutter zu mir gekommen mit Einzelheiten, die – Du Dir etwa vorstellen magst. Aber es kam zum Glück anders. Mutter schöpfte neue Kräfte, die Hoffnung, mich wiederzusehen mag sie gestärkt haben. Heute steht sie schon wieder auf. Natürlich weiß sie nicht, daß mein Gesuch abgelehnt ist. Hofft noch immer. –

In einer der Nächte kalbte eine Kuh im nahen Stall. Die ganze Nacht hindurch hörte ich sie stöhnen. Ganz tief klangs, schütternd, ächzend, als ob ein Mensch klagt. Dann wieder klang ihr Schrei dumpf, zuckend, wie der Schrei eines Kindes, das hungert, und das sich in den Schlaf schreit.

In irgend einem Bauernhof fing ein Hund an zu bellen. Ein zweiter antwortet kläffend. Ein dritter beginnt, schläfrig, dann lauter, immer zorniger. Ein vierter, ein fünfter, ein sechster. Und dann bellen die Hunde des ganzen Dorfes. Ich spüre förmlich, wie sie an ihren Ketten zerren, wie sie zueinander wollen und nicht können, wie ihr Zorn zu Wut wird, wie sie toben, sich auflehnen, heulen – bis sie müde werden und aufhören. Ab und zu noch ein heulender Ton, wie der Schrei eines, ders gar nicht fassen kann … Dann Stille.

Am Teich draußen singt ein Vogel, in ganz kurzen Intervallen stößt er einen hellen klagenden Trillerlaut aus, einen Laut, so unergründlich klagend, wie ich noch nie einen Vogel singen hörte. Auch dieser Vogel – sang.