Max Beer (geboren am 10. August 1864 als Moses Beer in Tarnobrzeg, Galizien, Kaisertum Österreich; gestorben am 30. April 1943 in London) war ein österreichisch-deutscher Publizist und Historiker.
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#273 Brief an Alexander Bloch
Datierung | 1923-01-05 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 369f.). |
Personen |
Bloch, Alexander
Beer, Max Bloch, Alexander Toller, Ernst |
5.1.23
An Alexander Bloch.
Sie haben den richtigen Instinkt, lieber Freund, und Sie tun unrecht, sich oberflächlich zu nennen, weil Sie die Freiheit maßlos lieben und auch das äußere Leben. Sie wittern die Gefahr: in 95 von 100 Fällen schwächt länger währende Haft, ähnlich wie im Staat der Diktator, die Willenskräfte, den Willen zur eigenen Gestaltung des Lebens, nicht selten den Willen zum Leben.
Militärische Disziplin, unbedingte leibliche und geistige Unterordnung, wie klingt das deutschen Ohren wohl, auch denen von links. Aufgabe der eigenen, ach so schwach fundierten Selbstverantwortlichkeit, man ist eine Last los.
Männliche Freiheit ist keine Tugend, die in Deutschland wächst. Der Knechtsgeist findet seine Apologeten, denn welcher Schurkerei ist ein „Professor“ nicht fähig. Europa wird eine gewaltige Kaserne, wehe dem, der den Zapfenstreich verpaßt! –
Was „draußen“ vorgeht, erfahre ich durch Zeitungen. Wenigstens einen Teil. Und ich habe das Empfinden, daß ich, von einer Insel das Antlitz dieser Zeiten schauend, die Linien klarer, eindringlicher, unverwischter sehe, als wenn ich draußen lebte, beeinflußt von vorübergehenden Ereignissen, die groß scheinen und doch nur den Blick trüben, weil man sie nicht gleich in ihrer Aufgeblasenheit erkennt. Gleich Ihnen glaube ich, daß wir am Beginn gewaltiger Wirren uns befinden. Zeiten der Ruhe können darüber nicht hinwegtäuschen, alles Lebendige kennt Spannen von stillerem Rhythmus; wir sagen: Ruhe.
Nicht aber glaube ich, daß am Ende der Sozialismus den dann lebenden Generationen in den Schoß fällt, kampflos, ein Wunder. Was sich jetzt in Europa und Amerika begibt, (ich nehme Rußland aus, das russische Phänomen ist eine Antizipation kommender Dinge der östlichen Erde) ist der Kampf des konzentrierten Kapitals, des Großkapitals gegen das Kleinkapital, gegen die mittlere und kleinere Bourgeoisie und die Arbeiterklasse und den Staat als demokratische Institution. (Daß das Kleinkapital den Braten nicht riecht, hat viele materielle und psychologische Ursachen.) Schon bin ich gehemmt … Einmal werden wir uns doch zu freiem Gespräch begegnen.
Kennen Sie eigentlich die Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe von M. Beer? Ich empfehle Ihnen die kleinen Bändchen. Sie sind instruktiv gerade für unsere Zeit, sofern man sich vor der Neigung zu groben historischen Parallelen hütet. Wertvoll auch die Aufzeichnungen der geistigen Strömungen, die von den vulgär-marxistischen Autoren kaum beachtet werden.
Leben Sie wohl. Der mohammedanische Priester betet: Mögen alle Wesen schmerzlos sein. Das ist ein schönes Gebet.