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Erich Friedrich Wilhelm Ludendorff (* 9. April 1865 in Kruszewnia bei Schwersenz, Provinz Posen; † 20. Dezember 1937 in München) war ein deutscher General und Politiker.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#271 Brief an [unbekannt]

Datierung 1922-??-??
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 354f.).
Poststelle -
Personen [unbekannt]
Ludendorff, Erich
[unbekannt]
Toller, Ernst

Beschlagnahmter Brief

An einen Arbeiter.

Was bedeuten die Gefängnismauern der Reaktion, da ich die Möglichkeit habe, zu den kämpfenden Kameraden draußen zu sprechen.

Man nannte mich ein Bourgeoissöhnchen, ja, ich bin als Bourgeoissohn geboren. Da ich erkannte, daß wir eine Gesellschaftsordnung haben, die auf sozialer Ungerechtigkeit aufgebaut ist, schlug ich mich auf die Seite der Arbeiterschaft.

Man spricht heute viel von proletarischer Kunst. Sie ist uns notwendig, aber sie kann nicht auf Grund von Programmen fabriziert werden.

Die ewigen menschlichen Probleme, wie der Proletarier sie erlebt, gestalten, nur das kann der Inhalt proletarischer Kunst sein. Es ist nicht Aufgabe der proletarischen Kunst, irgendwelche Parteiresolutionen in die Massen zu werfen, das mögen Agitatoren besorgen. Proletarisches Schicksal, Leben, Not, Kampf und Traum der Massen werden dem Antlitz der proletarischen Kunst ihre besonderen Züge verleihen.

Zuletzt aber kann sich auch der proletarische Dichter der Tragik des menschlichen Lebens, die offenbar wird im Proletarier ebenso wie im Bourgeois, nicht verschließen.

Politisch bekämpfe ich Ludendorff mit schärfsten Waffen. Gesetzt den Fall, ich würde seine Persönlichkeit dichterisch zu gestalten suchen, ich könnte die tragischen und menschlichen Züge Ludendorffs nicht „fortlassen“.

Noch eine andere wichtige Aufgabe hat proletarische Kunst: das große geistige Erbe der bürgerlichen Epoche zu hüten und es wahrhaft zum Besitz des Volks zu machen.

Nicht in jedem Werk finden wir Antworten auf unsere Fragen. Sollen wir sie verwerfen, weil sie keine Lehre enthalten, die uns nützlich ist? Wie kleinlich, wie falsch wäre das. Ist Schönheit nicht eine Lehre? Werden wir nicht menschlicher, besser durch den Anblick des Schönen? Nur kunstfremde Theoretiker fordern, daß jeder Dichter den Leser mit einer Nutzanwendung zu entlassen habe, gleich den Großmüttern, die Sofakissen mit tröstlichen Sprüchen eingestickt zu verschenken pflegten.

Der Staatsmann möge an den Menschen denken, an nichts anderes als den Menschen.

Wer aber will dem Dichter verbieten, die Sterne zu sehen und die Wolken, die Frühlingswinde rauschen zu hören und die Herbststürme, über das Leben nachzudenken und über den Tod?

In den Werken der Revolutionäre wird der Kampf besungen und der kämpfende Mensch. Lieben wir den Kampf um des Kampfes willen? Nein. Der Kampf ist ein Mittel, wie die Politik ein Mittel ist. Ohne Kampf, ohne Politik sind wir das Eisen, auf das der Hammer schlägt. Wir aber müssen der Hammer werden, der das Eisen formt.

Träumen wir nicht von einer Gemeinschaft, die sich nicht mehr in den minderwertigen Kämpfen der Politik zerreibt, ja, die vom Berufspolitiker als gesellschaftlichem Typus befreit ist? Von einer Gemeinschaft, die ohne Hunger und ohne Angst, dem edlen Glück, dem edlen Leid lebt?