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Mathilde Sara Wurm (geborene Adler; * 30. September 1874 in Frankfurt am Main; † 1. April 1935 in London) war eine deutsche Sozialarbeiterin und Politikerin (SPD, USPD).

Kurt Eisner (geboren am 14. Mai 1867 in Berlin; gestorben am 21. Februar 1919 in München), sozialistischer Revolutionär, Journalist und Politiker, vom 8. November 1918 bis zu seiner Ermordung durch Anton Graf von Arco auf Valley Ministerpräsident des Freistaats Bayern.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Mathilde Sara Wurm (geborene Adler; * 30. September 1874 in Frankfurt am Main; † 1. April 1935 in London) war eine deutsche Sozialarbeiterin und Politikerin (SPD, USPD).

#269 Brief an Mathilde Wurm

Datierung 1922-??-??
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 362f.).
Personen Wurm, Mathilde
Eisner, Kurt
Toller, Ernst
Wurm, Mathilde

An Mathilde Wurm.

Sie haben recht, es ist den Arbeitern unbequem, wenn ihre Frauen Ernst machen mit der Verwirklichung sozialistischer Forderungen. Ich lebe hier eng beieinander mit vielen Arbeitern, lese die Briefe von Frauen und blicke in die feinsten Beziehungen proletarischen Ehelebens. Oft sehe ich den Bruch zwischen sozialistischen Einsichten und traditionellem Empfinden.

Es begegnete mir hier ein Genosse, dessen Steckenpferd die Verdammung der bürgerlichen Sexualmoral war. Mann und Frau müßten in freier Selbstverantwortung tun, was inneres Gesetz ihnen vorschriebe. Ebenso wie der Mann sich das Recht nähme, eine zweite Frau zu umarmen, müsse auch der Frau das Recht zustehen, einen anderen als ihren Ehemann zu umarmen, sofern sie ihn liebe.

Der Genosse wird nach dreijähriger Haft entlassen. Briefe kamen, die erzählen, wie nach der langen Trennung sich aller seelische Reichtum der im Alltag der ersten Jahre verschüttet war, aufs neue entfalte. Da, plötzlich, kam ein verzweifelter Brief: Zerbrochen sei das Glück, zerstört, was verheißungsvoll wuchs, nie, nie könne wieder gut werden, was plötzlich auf immer vergiftet.

Und der Grund? Der Genosse hatte in Erfahrung gebracht, daß seine Frau ein einzigesmal in den drei Jahren einen „Fehltritt“ (Fehltritt, schrieb er!) begangen habe. Nichts mehr wußte er von seinen idealen Forderungen. Vergessen war auch, daß er keine Gelegenheit verstreichen ließ, bei der er nicht sich seiner Liebes-Erlebnisse gerühmt hätte.

Die traditionellen Instinkte, die in Elternhaus und Schule, in Kaserne und Kriegerverein gezüchtet werden, sind stärker als die ideologischen Auffassungen, die mit der Parteikarte flüchtig erworben wurden, das erlebe ich immer wieder in Gesprächen mit Kameraden. Ein paar Episoden.

A., ein prächtiger Revolutionär sagt während einer politischen Diskussion: „Es gibt keine ehrlichen Bourgeois. Die ganze Bourgeoisie ist verrottet, korrumpiert, charakterlos.“

A., wenn er von familiären Dingen spricht: „Meine Schwester war bei einer feinen Herrschaft, sag ich dir, bei einer anständigen Herrschaft. Die Gnädige hat ihr stets die Hand gegeben, wenn sie vom Sonntagsausgang zurückkam.“

Genosse U., Bauernagitator, ist glühender Pazifist. Er berichtet, wie er einmal vor Bauern aus der Hollerdau Eisners Friedensmanifest vorgelesen habe. Wie da die Bauern, Männer und Frauen, Tränen der Ergriffenheit vergossen. „Schön wars,“ meint er, von der Erinnerung gerührt. „Grad schön.“

Eine halbe Stunde später sprechen wir vom Krieg. Es stellt sich heraus, daß wir beide vor Pont à Mousson lagen, er 1914, ich 1915. „Wie du hinkamst, war ja nichts mehr los,“ brummt er. „Aber i, i hab den Bewegungskrieg dorten mitgemacht. Des war a Gaudi,“ ruft er ehrlich entzückt. „Die Messer haben wir den Franzosenbatzi in den Bauch hineingerannt, daß es grad so geschnackelt hat.“

Ich unterhalte mich mit dem Genossen X., einem radikalen Sozialisten. Er schimpft auf die bürgerliche Ehe als einer einzig durch den Kapitalismus bedingten Institution, schwärmt von den neuen reinen, freien Beziehungen zwischen Mann und Frau, die der Sozialismus schaffen wird.

Eines Tages sitze ich mit ihm in einem Kreis von Genossen beisammen. Über Frauen wird gesprochen, über die Ehe. Einer wendet sich an diesen X. „Hat deine Frau dich mal nackt gesehen?“ „Aber wo denkst du hin,“ antwortet X. entrüstet, „dann könnte sie mich ja nicht mehr achten!“

„Die französischen Baumschützen waren schon die größten Feiglinge und Lumpen,“ schreit H., ein alter Rotgardist.

„Erlaube, Leute, die sich freiwillig für ihre Kameraden opferten, feig zu schelten, finde ich seltsam,“ antworte ich.

„Aber die schossen doch aus dem Hinterhalt,“ beharrt H.

„Eine empfindsame Unterscheidung für den modernen Krieg. Wenn das gleiche wie die französischen Baumschützen nun Proleten, Rotgardisten täten, während eines Bürgerkrieges? Würdest du die auch feig heißen?“

„Wenn du nicht einsiehst, daß das was anderes ist,“ zetert er, „kannst du mir leid tun. Ach, mit dir überhaupt zu diskutieren … i sags ja, ihr Intellektuellen … an Dreck versteht ihr!“