Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.
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Erhard Auer (* 22. Dezember 1874 in Dommelstadl, Gemeinde Neuburg am Inn bei Passau; † 20. März 1945 in Giengen an der Brenz, Württemberg) war ein bayerischer Politiker, Mitglied des Landtages, erster Innenminister des Freistaats Bayern und SPD-Parteivorsitzender in Bayern.
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Georg Heim, genannt der Bauerndoktor, (* 24. April 1865 in Aschaffenburg; † 17. August 1938 in Würzburg) war ein bayerischer Agrarpolitiker und Führer der katholischen Bauernbewegung in Bayern. Er war Mitbegründer der Bayerischen Volkspartei (BVP) und Wortführer des bayerischen Separatismus nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches.
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Anton Graf von Arco auf Valley (* 5. Februar 1897 in St. Martin im Innkreis; † 29. Juni 1945 in Salzburg) war ein deutscher Adliger. Er ermordete am 21. Februar 1919 den bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner.
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Kurt Eisner (geboren am 14. Mai 1867 in Berlin; gestorben am 21. Februar 1919 in München), sozialistischer Revolutionär, Journalist und Politiker, vom 8. November 1918 bis zu seiner Ermordung durch Anton Graf von Arco auf Valley Ministerpräsident des Freistaats Bayern.
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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.
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#240 Brief an Nettie Katzenstein
Datierung | 1922-09-15 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 364f.). |
Poststelle | - |
Personen |
Katzenstein, Nettie
Auer, Erhard Heim, Georg Arco auf Valley, Anton Graf von Eisner, Kurt Toller, Ernst Katzenstein, Nettie |
15.9.1922
An Tessa.
Seit acht Tagen friere ich wie ein Rohrspatz, (was ist eigentlich ein „Rohrspatz“?), wie das berühmte Schneiderlein, wie ein Neger, den man an den Nordpol gesetzt hat – und während ich schreibe, den Rockkragen hochgeschlagen, auf dem Stuhl zusammengekauert, wollen die Finger mir den Dienst versagen, so klamm sind sie. Draußen verhangener Himmel, Sturm, Regen, drinnen im steinernen Zellenbau feindliche, feuchte Kälte – wir alle frieren, frieren, frieren.
Die Kälte zermürbt den Körper ebenso wie den Geist, ich leide empfindlich darunter, ich kann kaum lesen, bin gnärrig, mürrisch, frei von jedem guten oder tröstlichen Gedanken, passe so recht zu meinen grauen Haaren.
Es wäre in der Zelle einige Grade wärmer, schlösse ich das Fenster, aber noch leben die Schwalben bei mir, und denen die Tür zum Nest versperren, dann lieber schon ein bißchen mehr frieren.
Die Schwalben sind das einzig Tröstliche. Bald werden sie mich verlassen, vielleicht begegnet Ihr ihnen irgendwo in Süditalien, denkt dann an mich. Und wenn Ihr die Vogelsprache versteht, lauscht aufmerksam.
Ihr wollt mich, wenn ich frei bin, nach Spanien mitnehmen. O ja, nach Spanien will ich schon mitfahren. Noch ein Winter und noch ein Winter – und ich komme zu Euch. Ob das alles nur Traum bleibt, Fülle seliger Bilder, die mich innehalten ließen – nicht an die Ahnung denken, daß mir anderes Schicksal bestimmt ist.
P.S.
Ich weiß nicht, ob Du die Geschichte hören magst, aber sie geht uns doch an, denn sie ist Gleichnis für Umfassenderes, Schmerzlicheres. Die Geschichte, die durch alle deutschen Zeitungen geht, heißt „Auer und das Rosenbukett“.
Die „Münchner Post“ griff Heim an, weil er „in auffallend herzlicher Weise“ den Grafen Arco, beschäftigt auf einem Klostergut bei Landsberg, auf dem Feld begrüßt und mit ihm einige Zeit in trautem Gespräch verbracht habe. Heim antwortet im Bayrischen Courier. Ist erstaunt, von seinem verehrten Kollegen, dem Direktor der Münchner Post, so boshaften Angriff zu vernehmen. Erinnere er sich recht, so habe der Sozialdemokrat Auer – mitten im Winter – dem Grafen Arco ein Rosenbukett übersandt.
Tableau! Auer dem Mörder Eisners ein Rosenbukett? Unfaßbar.
Auer antwortet. Fern liege es ihm zu bestreiten, daß er, Auer, dem Grafen ein Rosenbukett gesandt. Einer zarten Aufmerksamkeit, die ihm, da er Seite an Seite mit Arco während vieler Monate im Krankenhaus gelegen, von diesem widerfahren, habe er auf diese Weise Dank sagen wollen. Arglistig hingegen wäre es, diesem Akt „privater Menschlichkeit“ politische Deutung zu geben.
Drauf der Bayrische Courier: Arco sei aufmerksam gegen Auer gewesen? Nicht daß wir wüßten. Aber vielleicht denke der Sozialist Auer an den Minister Auer, der in der Weihnachtsnacht vor den Eisnerschen Rotgardisten Schutz gesucht und diesen Schutz beim Kompagnieführer Arco im Leibregiment gefunden habe. O, es wäre eine „unvergeßlich lange, heilige Nacht“ gewesen.
Gekränkt beendet Auer in der Post seine Replik, er bleibe bei seiner Behauptung, für die ehrenwerte Zeugen aufzubringen ihm nicht schwer fallen würde. Nur in Rücksicht auf die furchtbaren Verhältnisse, die unser Volk bedrohen, nicht in Rücksicht auf seine Person, habe er sich zu dem Entschluß durchgerungen, fürderhin mannhaft zu schweigen.