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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Clemens Wenzeslaus Brentano de La Roche (* 9. September 1778 in Ehrenbreitstein (heute Koblenz); † 28. Juli 1842 in Aschaffenburg) war ein deutscher Schriftsteller und neben Achim von Arnim der Hauptvertreter der sogenannten Heidelberger Romantik.

Friedrich Martin Adalbert Kayssler, auch Friedrich Kayßler (* 7. April 1874 in Neurode; † 24. April 1945 in Kleinmachnow bei Berlin) war ein deutscher Schauspieler sowie Schriftsteller und Komponist.

Julius Bab (* 11. Dezember 1880 in Berlin; † 12. Februar 1955 in Roslyn Heights, New York) war ein deutscher Dramatiker der Berliner Moderne sowie Theaterkritiker. Er war Mitbegründer des Kulturbunds Deutscher Juden.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#229 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1922-08-14
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 351–353).
Personen Katzenstein, Nettie
Brentano, Clemens
Kayssler, Friedrich
Bab, Julius
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie
Werke Der deutsche Hinkemann

14.8.22

An Tessa.

Ich fand ein Wort von Clemens Brentano: „Freundschaft heißt nicht zusammenhängen und zusammensitzen, Freundschaft ist groß und frei und liegt im Gedanken, für den jeder Raum gleich nah ist.“

Gestern früh merkte ich große Geschäftigkeit bei meinen Freunden in der Zelle, den Schwalben. Die Schwälbin stand auf dem Nestrand, guckte angespannt ins Nest, beugte das Köpfchen, pickte, zwitscherte alle paar Minuten einen Laut zu ihrem Gatten hinüber, der über meinem Tisch auf dem Leitungsdraht saß und auch sehr aufgeregt tat. Plötzlich ein aufgeregtes Schirpen der Schwälbin, „Er“ flog zum Nest hin, umkreiste es, versuchte hineinzuschauen (sich hinzusetzen erlaubte ihm die eifersüchtige Gattin nicht), flog zum Fenster hinaus, kam bald wieder zurück, trug etwas zum Nest, flog wieder davon. Ich nahm das Fernglas eines Freundes und entdeckte, als die Schwälbin wieder einmal im Nest gepickt hatte, in ihrem Schnabel ein Stückchen weiße Schale. Ich war unterrichtet. Und in einem Moment, da beide draußen waren, stieg ich auf die Schulter eines Freundes, betrachtete das Nest und … erblickte vier putzige, rote, nackte Schwälbchen mit langem dünnen Hals und mächtigen Köpfen. Nur ein paar graue, spitze Flaumhärchen wärmten den Körper.

Als ich in das Nest schaute, ward ich fromm. Während ich schreibe, werden die Jungen, die im Gegensatz zu kleinen Menschenkindern noch mit keinem Laut zeigten, daß sie leben (auch ihre Augen sind noch geschlossen), von den Alten zärtlich betreut und gefüttert. Das Nest bleibt immer sauber, es ist rührend zu sehen, wie Schwälberich und Schwälbin den Kot der Jungen, dicke, weiße Raupen (in den ersten Tagen graue) mit dem Schnabel nach der Fütterung davontragen. Und es gibt Menschen, die leugnen das soziale Apriori in der Tier- und Menschenwelt. Tier – Mensch, eine Nüance, nicht mehr. –

Liebe, Deine Kritik des „Hinkemann“ mußte mich froh machen. Die Volksbühne hat ihn leider abgelehnt. Mit lächerlichen Argumenten. „Das Stück hat in seiner veränderten Fassung stark gewonnen. Das Kämpfen und Leiden Hinkemanns bekommt jetzt einen schicksalsmäßigen Zug, die Szenen mit den Arbeitern sind mehr in das geistige Zentrum des Ganzen verwoben und die Figuren haben an Rundung und Klarheit gewonnen. Dennoch muß der Direktor, Herr Kayssler, an seinen Bedenken, die er gegen Ihre Dichtung als Bühnenstück hat, infolge des Themas, das etwas Abseitsliegendes und Spezielles behält, leider festhalten. Für eine Rede, eine Abhandlung oder Novelle scheint ihm der Vorwurf mehr geeignet als für die Bühne. Daß ein zahlreiches, Schulter an Schulter sitzendes Publikum durch das Motiv Ihres Stückes genötigt wird, zu gleicher Zeit und fast ununterbrochen an die heikle Verstümmelung Hinkemanns zu denken, das erscheint Herrn Kayssler als keine glückliche Forderung, ja auch dem Zweck, den Sie erreichen wollen, ungünstig zu sein.“ Man sollte meinen, das hat ein Gymnasialoberlehrer geschrieben und kein Leiter einer Bühne des Volkes. Aber vielleicht hat es auch der Bab, das tristeste Exemplar deutscher Kritikasterei, inspiriert. Welche Unsauberkeit, zu meinen, daß die Hörer des Hinkemann ununterbrochen an jene heikle Verstümmelung denken werden. Ja, bin ich denn ein Schmutzgräber! Naive Proleten, denen ich das Stück vorgelesen habe, merkten den Symbolgehalt der „heiklen Verstümmelung“, die menschliche Not. Es war ja gerade eine meiner künstlerischen Aufgaben, die ich glaube gelöst zu haben, jenes Heikle, das eine barbarische Tradition mit dem Fluch der Lächerlichkeit behaftete, zu überwinden.

Traurig ist, daß das Stück nicht vor den Hörern aufgeführt wird, die es angeht, vor Proletariern. Denn was kann es dem WW-Publikum sein? Eine Sensation mehr. –

Ich sende Dir Nr. 31 der Weltbühne. Lies den Aufsatz „Oberschlesien“. Wie die nationalistischen Bataillone und die Feme gehaust haben. Was ist da noch zu hoffen … Ich kann diesen Aufsatz nicht vergessen. Was da beschrieben wird, ist Symptom. So war es, so ist es, so … wird es wohl bald in Deutschland sein. Sisyphus-Arbeit! Oder doch nicht? Oder dürfen wir gar nicht fragen? Ist Frage vielleicht schon Treulosigkeit? Tun, was uns zu tun notwendig ist. Und kämpften wir umsonst, es werden andere kommen. Ein Kampf, der gegen Jahrhunderte geführt wird, wird nicht in Jahren entschieden.