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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#190 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1922-01-30
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 335f.).
Personen Katzenstein, Nettie
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie

30.1.1922

An Tessa.

Es ist furchtbar, Tag für Tag preisgegeben zu sein den eintönigen, sich immer wiederholenden Geräuschen dieses Hauses, dessen Wände so dünn sind, daß aus den Zellen über, neben, unter Dir die Laute zu Dir dringen. Lärm auf den Gängen, Klirren der Schlüsselbünde, Scheppern der schweren Gittertüren, Namenaufrufen der Wächter, Zuschlagen von Türen, Klappern genagelter Stiefel auf den Steinfliesen – oder noch furchtbarer das dünne Schlürfen der Gummisohlen.

Tag um Tag würgen Dich die Tonketten der Dissonanzen. Im ersten Jahr war mein Wille imstande, durch leise Anspannung alle Geräusche abzuwehren und meine Zelle wie eine Insel der Stille sich loslösen zu lassen vom lärmenden Land. Im zweiten Jahr wurde es schon schwerer – man sagt in der Psychologie wohl: die Reizschwelle sinkt. Im dritten Jahr kam der Tag, da ich hilflos jedes Geräusch wie einen Peitschenhieb auf wundem Kopf empfand. Es kostet mich -jedesmal eine ungeheure Anstrengung, bis ich die vielen feindlichen Laute zu übermächtigen vermag und sie ausschalte aus meinem Bewußtsein. Welche Nervenkraft da absorbiert wird.

Die schroffe Ablehnung meines Urlaubsgesuchs riß meine letzten Kräfte zusammen, ich begann unter Ablehnung jeder ärztlichen Hilfe mir selber ein Arzt zu werden. Jeden Morgen von 7–8 turne ich unter Leitung eines Kameraden, der in München bei einem Sportverein Trainer war. Viel Atemübungen, nach dem Turnen Frottieren mit kaltem Wasser. Ich war am körperlichen Zusammenbrechen, heute habe ich einige Hoffnung, ohne besondere Verwüstung dieses Haus zu verlassen.

Der Kampf untereinander hat nachgelassen, aus Müdigkeit, aus Resignation, aus Behäbigkeit. Ich wage nicht zu sagen, aus Vernunft. Sektierertum, dünkelhafte Intoleranz sind nach wie vor stark.

Ein Beispiel: Ich höre, daß ein Genosse die Anstalt verläßt. Auf irgend einen Beschluß hin der „ganz reinen Rrrevolutionäre“ durfte er mit uns unabhängigen Sozialdemokraten nicht sprechen. (Nebenbei hat die K. P. Fraktion im Gefängnis rechte, halbrechte, halblinke, linke Flügel.) Ich gehe auf ihn zu, will ihm die Hand geben und sage: „Nun, mein Lieber, ich höre, daß du uns verläßt. Ich wünsche dir alles Gute“ – Der andere sieht sich ängstlich um, wird rot, verlegen, stammelt: „Entschuldige … aber … ich kann dir hier auf dem Hof die Hand nicht geben … Die Genossen X Y würden es sehen … Du weißt schon … Ich habe gar nichts gegen dich … draußen gebe ich dir jederzeit die Hand … hier … hier … die Genossen X und Y würden vielleicht der Zentrale melden, daß ich mit Toller gesprochen habe, mit ihm vertraut bin … nicht wahr … Du verstehst schon.“ Ich lächelte – traurig und mitleidig zugleich. Eine Revolution, die statt selbstverantwortlicher, freier Menschen Sektenfunktionäre, „Pfaffen“, „Ordenslakaien“ (ohne die Geistigkeit katholischer Orden), Parteiunteroffiziere Potsdamer Observanz zeugte.