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Carl Seelig (* 11. Mai 1894 in Zürich; † 15. Februar 1962 ebenda) war ein deutschsprachiger Schweizer Schriftsteller und Mäzen.

Romain Rolland (* 29. Januar 1866 in Clamecy, Département Nièvre; † 30. Dezember 1944 in Vézelay, Burgund) war ein französischer Schriftsteller, Musikkritiker und Pazifist.

Carl Seelig (* 11. Mai 1894 in Zürich; † 15. Februar 1962 ebenda) war ein deutschsprachiger Schweizer Schriftsteller und Mäzen.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#148 Brief an Carl Seelig

Datierung 1921-07-15
Absendeort *Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief., 4 S., M

Provenienz Robert Walser-Zentrum Bern, NL Carl Seelig, Sign. RWZ_SEELIG B-02-TOLL
Briefkopf -
Publikationsort Ulrich Weinzierl: Carl Seelig, Schriftsteller. Wien: Löcker 1982, S. 46.
Poststelle -
Personen Seelig, Carl
Rolland, Romain
Seelig, Carl
Toller, Ernst
Werke Die Maschinenstürmer

Lieber Herr Carl Seelig,

Sie haben mir eine ganz große Freude bereitet. Ihr Brief war eins jener Geschenke, das man mit reichen Händen empfängt.

Ich bin glücklich am Werk der Zwölf-Bücher-Reihe mitzuschaffen, und Ihnen danke ich, daß ich daran mitschaffen darf!

Die erste Form des Dramas, entstanden in Nächten heimlicher Arbeit – denn nachts Licht zu brennen ist verboten –, entstanden in demütigenden Verhältnissen, die an der Nervenkraft trotz geistiger Freiheit und Ungebeugtheit nagen nagen, nach Schau und Erlebnis, nach langer Vorarbeit in wenigen Tagen beglückender Schaffenskraft geschrieben … habe ich dann viermal zerbrochen. – Es gab Stunden, in denen ich mich mit dem Gedanken trug das Stück „zurückzuhalten“ – aus Furcht, man könnte den dorren Atem der Gefängnishöfe, den dorren Atem der dämmrigen Zellengänge spüren, in die Tag und Nacht die Blicke der Wächter starren.

Sie werden nun ermessen, wie Ihr Urteil mich froh machte.

Ich habe versucht ein Drama aus der „Seelenwelt“ des Proletariats heraus zu gestalten, ohne in den gefährlichen Fehler gewisser Literaten zu verfallen, den Proletarier zu vergötzen und zu vergotten, nur weil er Proletarier ist. Ich wünschte, daß dieses Drama dem Proletarier (und dem Bürger!) mehr wäre als „Schauobjekt“ einiger Stunden.

Damit ein Drama dem Proletarier mehr sei – schrieb ich erst gestern an einen Freund – muß es sein nacktes Leben jenseits jeder moralisierenden Schönfärberei formen. Der Proletarier muß sich sehen, sich in seiner Hilflosigkeit, seiner Schwäche, seiner Verzagtheit, seiner Untreue gegen sich und die Sache, sich in seiner Roheit gegenüber feineren Lebensäußerungen, die er nicht sogleich begreift, sich in der Ungebändigtheit seiner Triebe – sich in seiner großen reinen Sehnsucht nach höheren Formen der Volks- und Völkergemeinschaft, sich in seinem Mut, seiner Opferwilligkeit, seiner Treue.

Er muß sich klagen und anklagen, fluchen und verfluchen, schreien und aufschreien, reden und überreden, lachen und verlachen hören.

Ecce homo! Ecce Proletarier! – Dieses Gefühl muß mächtig ihn erschüttern, wenn das Drama ihn an sich zieht, ihn löst, ihn auflöst, ihn erlöst, ihn umarmt und ihn ergreift. – – –

Glauben Sie nicht, lieber Carl Seelig, daß mir Ihre Gedanken über Politik „verächtlich“ sind.

Politik, zu der mich Not-wendigkeit (also Not!), Erkenntnis, Wille zur Neugestaltung trieben, war mir sozialer Imperativ. (In dunklen Stunden Verhängnis). Nie „Selbstzweck“.

Daß Politik heute noch „Kampfboden für ehrgeizige und verblendete Leute“ ist, die ihre Mechanik des Gegen-einander-Ausbalancierens die wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Machtkomplexe lernten wie Schieber die Mechanik des Profitmachens lernen, diese Auffassung teile ich mit Ihnen. Und wer wie ich in das Gewirr dieses Kampfbodens verstrickt war, der weiß, daß im „revolutionären Lager“ die Erscheinungsformen wechseln, die Erscheinungsinhalte aber meist die gleichen sind wie im Lager der Rechten.

Ich las vor wenigen Tagen ein Wort Romain Rollands, das mich anrührte, und das mich nicht mehr verläßt.

„Man kann den Menschen nicht helfen, man kann sie nur lieben.“

Es mag wohl so sein im letzten, und vielleicht ist für manchen Politik nur eine Form, in der seine Liebe zu den Menschen Tat werden kann.

(Entscheidend ist dann die Frage nicht, ob der Mensch gut oder böse ist. Er „ ist. “ Und „Liebe bejaht, abgesehen vom Wert.“) –

Ich grüße Sie herzlichst.

Ihr

Ernst Toller.

– Wann ich das Gefängnis verlasse?

Am 16. Juli 1924, mittags 115, also morgen in drei Jahren.

Fest. Niederschönenfeld,

15.7.21.

Apparat

Werk der Zwölf-Bücher-Reihe] Gemeint ist die von Seelig herausgegebene und finanzierte Reihe Die Zwölf Bücher , die von 1919–1922 im Verlag E. P. Tal erschien (vgl. TW, Bd. 1, S. 410; vgl. näher Weinzierl 1982, S. 33-52. Tollers Drama Die Maschinenstürmer (TW, Bd. 1, S. 127–188) erschien als zwölfter Band der ersten Reihe.

Die erste Form des Dramas ... habe ich dann viermal zerbrochen] In den Briefen aus dem Gefängnis heißt es abweichend über den Entstehungsprozess der Maschinenstürmer : „Ich habe mein Drama zum fünften Mal zerbrochen.“ (TW, Bd. 3, S. 314)

ohne in den gefährlichen Fehler gewisser Literaten zu verfallen, den Proletarier zu vergötzen und zu vergotten, nur weil er Proletarier ist.] Toller prangert die Vergötzung der Proletarier häufiger an, z. B. Brief An K. (Vgl. 1924-xx-xx_K), Arbeiten Bd. 4, S. 161; vgl. Eine Jugend in Deutschland, Bd. 3, S. 252

schrieb ich erst gestern an einen Freund] Nicht ermittelt. Vgl. 1924-xx-xx_K, der in Briefe aus dem Gefängnis allerdings dem Abschnitt 1924 zugeordnet ist.

Ecce homo!] „Sehet, welch ein Mensch.“ (Joh 19,5).

sozialer Imperativ] In Analogie zu an Immanuel Kants kategorischem Imperativ („Handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann.“ Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten . Werkausgabe, Bd. VIII, hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977 [stw 190], S. 331) formuliert Toller hier den sozialen Imperativ.

Schieber] Urspr. Bezeichnung für Börsenspekulanten, die ein Termingeschäft prolongieren. Der Ausdruck wurde im Ersten Weltkrieg für Personen üblich, die Geschäfte unter Mißachtung der Wirtschaftsgesetze machten, z. B. mit Preistreiberei oder Schleichhandel.

„Man kann den Menschen nicht helfen, man kann sie nur lieben.“] Worte der Titelfigur aus Rollands Roman Clérambault. Histoire d’une conscience libre pendant la Guerre (1920; dt. Clerambault. Geschichte eines freien Gewissens im Kriege ), Toller zitiert hier wohl aus: Stefan Zweig: Romain Rolland. Der Mann und das Werk. Frankfurt am Main: Rütten & Loening 1921. S. 253, denn Zweigs deutsche Übersetzung des Romans erschien erst 1922 (Frankfurt am Main: Rütten & Loening).

„Liebe bejaht, abgesehen vom Wert.“] Abwandlung eines Satzes aus Hans Blühers Buch Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft . Jena: Diederichs, 1917, S. 226: „Eros ist die Bejahung eines Menschen, abgesehen von seinem Wert .“

Am 16. Juli 1924, mittags 115] Toller wurde bereits einen Tag früher aus der Haft entlassen. Über den Vorgang seiner Entlassung berichtet er in dem Abschnitt Widerrechtliche Ausweisung eines Reichsdeutschen aus dem Freistaat Bayern in Justiz-Erlebnisse (TW, Bd. 3, S. 93f.).