Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.
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Torquato Tasso (* 11. März 1544 in Sorrent, nahe Neapel; † 25. April 1595 in Rom) war ein italienischer Dichter des 16. Jahrhunderts.
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John Milton (* 9. Dezember 1608 in London; † 8. November 1674 in Bunhill bei London) war ein englischer Dichter, politischer Denker und Staatsbediensteter unter Oliver Cromwell.
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Gustav Kahr, seit 1911 Ritter von Kahr (* 29. November 1862 in Weißenburg in Bayern; † 30. Juni 1934 im KZ Dachau) war ein deutscher Jurist und Politiker. Er amtierte vom 16. März 1920 bis 11. September 1921 als bayerischer Ministerpräsident und Außenminister.
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Christian Roth (* 12. Februar 1873 in Forchheim; † 16. September 1934 in Breslau) war ein deutscher Jurist, Verwaltungsbeamter und Politiker (DNVP, NF, NSDAP).
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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.
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#136 Brief an Nettie Katzenstein
Datierung | 1921-05-22 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 318f.). |
Poststelle | - |
Personen |
Katzenstein, Nettie
Tasso, Torquato Milton, John Mitzky, Dora Katzenstein, Julius Georg Katzenstein, Gabriello Kahr, Gustav von Roth, Christian Toller, Ernst Katzenstein, Nettie |
Werke | Masse Mensch |
18.5.1921
An Tessa.
Eigentlich sollte dieser Brief mit dem Fazit einer rezeptiven Arbeit beginnen. Aber das ist nicht möglich. Warum? Weil mich vor wenigen Minuten ein seltsamer Besuch beglückte. Zwei Schwalben hatten mich besucht. Erst saßen sie auf dem zurückgeklappten Fenster meines Gitterlochs, dann flogen sie auf den Draht der elektrischen Leitung, der halbkreisförmig nach unten ausgebuchtet über meinem Tisch schwebt. Dort zwitscherten sie, rutschten hin und her, krauten sich den schwarzen Rücken und die weißen Bäuchlein, vergaßen auch nicht, ihre Visitenkarte abzugeben, die respektvoll zwei Bücher grüßte: Tassos „Befreites Jerusalem“ und Miltons „Verlorenes Paradies“. In stiller Heiterkeit schaute ich dem anmutigen Besuch zu – wunschlos.
„Von Zeit zu Zeit tritt uns mit traumhaft leichter Sohle unsere stille Stunde an: weder unserer Eigenheit noch anderer Gegenständlichkeit des irdischen Gewühles klar bewußt, fühlen wir uns von allen Beziehungen zur Wirklichkeit wunderlich enthoben und ruhend ohne Schwere, süß wer weiß in welcher Mitte, ganz angelangt an einem letzten, nächsten, fernsten Ziel, das keine Zunge nennt und keine Wahrheit stammelt …“
Leide ich am Gefängnis? Wie ein Zittern an den Borden meiner Seele empfinde ich die Schwere der Mauern, die aufgeblasen drohen, als ob sie mich einzukeilen vermöchten.
Wirkliches Leiden lebt diesseits der äußeren Räume und Zeiten. Drückender als die spitzesten Gitter sind die Höhlen seelischer Verödung und Leere.
Einem Menschen schrieb ich: Die Haft dünkt mich oft wie eine Probe. Ich werde sie bestehen oder nicht bestehen. Das hängt nicht von meinem Willen ab, nicht von meinen gedanklichen Anstrengungen. Ich glaube nicht mehr an Wandlung zu „neuem“ Menschentum. Jede Wandlung ist Faltung oder Entfaltung. Tiefer als je spüre ich den Sinn des tragischen und gnädigen Worts: Der Mensch wird, was er ist.
Das Dogma der Gnadenwahl bedeutet (jenseits aller kirchlichen Exegese) nur ein Aussprechen menschlicher Wirklichkeiten. –
Wenn ich bei Dora, bei Dir leben könnte, unten am Lago Maggiore … Einen stillen, reichen, reifen Sommer. Ich würde, glaub ich, wieder ganz gesund.
Tagelang dämmerte ich auf meinem Bett hin, zermürbt, wie zerbrochen – geplagt von Kopfneuralgien. Ich sehe mit schrecklicher Deutlichkeit einen Verfall meiner geistigen Spannkraft, der Kraft geistiger Aktivität, der Kraft der sinnlichen Reaktibilität (wenn ich mit diesem Wort die Kraft, sinnliche Eindrücke leidenschaftlich wiederzuempfinden, bezeichnen darf.)
Frag einmal Dora, ob das rasche Ergrauen meiner Haare auf die Kopfneuralgien zurückzuführen ist. –
Dora haßt den Begriff „Leistung“, schriebst Du mir einmal. Höher als „leisten“ ist „sein“. – Und eine Persönlichkeit mag wertvoller sein als äußere Wirkung.
22.5.
Ich hörte vor vier Tagen auf zu schreiben, legte das Blatt unter meine Tischdecke und getraute mich bis heute nicht, es wieder in die Hand zu nehmen. Als ich damals das Blatt fortlegte, saß ich noch manche dunkle Nachtstunde vor meinem Tisch – ich hatte das Empfinden, eine Wunde gezeigt zu haben.
Nur wenige verstehen, und noch diese Wenigen trennt ein Gefühl der Scham.
Wie gern würde ich Deinen Jungen für ein paar Stunden bei mir sehen. Aber ein neuer Vorstand handhabt die Besuchsordnung strenger: es werden nur noch die nächsten Angehörigen und der Verteidiger zugelassen. Am letzten Freitag wollte mich mein alter Arzt Dr. M. besuchen. Er mußte die Anstalt verlassen, ohne mich gesprochen zu haben. – Du läßt einen Augenblick den Brief sinken? Denkst daran, ob Du wohl im Sommer eine Sprechkarte für mich erhalten wirst? Liebe, ich wage gar nicht, dem Gedanken nachzuhängen, daß Du in Bayern lebst, ohne mich besuchen zu dürfen. –
„Masse Mensch“ wurde in Nürnberg von der bayerischen Regierung verboten. Die Juden hätten wegen der Börsenszene gegen die Aufführung Einspruch erhoben. Hat man Euch die Verhandlungsberichte des Landtags geschickt? Infolge der Maßregeln der Kahr-Roth Regierung und der gleichzeitigen Pressehetze sind Bühnenannahmen in Norddeutschland schwer zu erreichen. Die Theaterdirektionen, abhängig von kapitalistischen Konzernen, fürchten sich, oder bekommen gar, wie es in einem Fall geschah, Anweisung, meine Stücke nicht zu spielen. –
Ich entdecke konservative Elemente in mir. Man könnte vielleicht sagen, daß der Revolutionär nur aus Liebe zu einem utopischen Konservativismus revolutionär wird.