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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#131 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1921-04-02
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 316f.).
Personen Katzenstein, Nettie
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie

2.4.1921

An Tessa.

Das Schreibverbot geht „gnädig“ vorüber, nicht die dumpfe Empfindung, auch in diesen Bezirken von fremdem Willen abhängig zu sein.

Ihr ermeßt kaum, wie glücklich mich Euer Osterpaket gemacht hat. So sorgfältig war das Paket gepackt, in bunte Papiere jede Schachtel gehüllt – es war, als ob man gestreichelt würde.

Ich schreibe an einem jener sehr stillen Frühlingsabende, die ein blasser Himmel umdämmert. Ich stand auf meinem Bett und blickte durchs Zellenfenster. Rot ruht die ungepflügte Scholle … am Horizont ein Wald, bläulich verhangen … von irgend einem Dorf nach der langen Pause der Karwochen wieder zitterndes Glockenklingen … Auf einem Telegraphendraht sitzen in gemessener Distanz zwei Stare … bewegungslos … demütig dem Schweigen des Abends lauschend.

Doch in diesem Schweigen eine Trunkenheit, die einen jäh singen läßt, oder jubeln, oder schreien.

Ich lebe wieder ein geformtes Leben. Regelmäßige Arbeit gibt das zufriedene Gefühl getanen Werks. –

Welche Tragödie in Mitteldeutschland! Die Putschtaktik ist nicht zu rechtfertigen. Katastrophenpolitik, die dieses Land der hemmungslosen Reaktion in die Arme treibt.

Wie gewisse Radikale jetzt um einer Phrase willen Arbeiterblut opferten, so taten sie es in den Apriltagen in München, als sie zum sinn- und aussichtslosen Kampf auf die Barrikaden riefen, weil „die blutige Niederlage die Reife des Proletariats beschleunige“ und „Verhandeln Verrat bedeute“. (Die gleichen Leute aber, die zum Kampf aufriefen, waren einen Tag vor Beginn der Kämpfe nicht mehr zu finden.)

Aus meinen Erfahrungen kann ich sagen, daß die grellsten Schreier häufig weibische Menschen sind, die in Wirklichkeit keinen Tropfen Blut sehen können.

Ich bin so bedrückt vom Elend, das wiederum tausende von Arbeiterfamilien trifft, daß ich über den Aufstand heute nicht schreiben möchte. Allzu verständlich die Hingabe so vieler Arbeiter.

Die Verelendung, die Aussicht auf langsames Verhungern drückt wie ein Joch, das abgeworfen werden muß. Mit einer Brutalität haust der Kapitalismus wieder, die den Profittanz des Krieges über-“jazzt“.