Maximilian Harden (* 20. Oktober 1861 in Berlin; † 30. Oktober 1927 in Montana, Schweiz; ursprünglich Felix Ernst Witkowski) war ein deutscher Publizist, Kritiker, Schauspieler und Journalist.
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Gustav Landauer (geboren am 7. April 1870 in Karlsruhe; gestorben am 2. Mai 1919 in München-Stadelheim) war Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts einer der wichtigsten Theoretiker und Aktivisten des Anarchismus in Deutschland. Nach Niederschlagung der Münchner Räterepublik wurde er von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten in der Haft ermordet.
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Franz Xaver Epp, seit 1916 Ritter von Epp (* 16. Oktober 1868 in München; † 31. Januar 1947 ebenda) war ein deutscher Berufssoldat, Politiker (NSDAP) und von 1933 bis 1945 Reichsstatthalter in Bayern.
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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.
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#111 Brief an Maximilian Harden
Datierung | 1920-??-?? |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 299–303). |
Poststelle | - |
Personen |
Harden, Maximilian
Landauer, Gustav Schleusinger, Karl Epp, Franz Ritter von Toller, Ernst Harden, Maximilian |
Beschlagnahmter Brief.
An Maximilian Harden.
Die deutsche Öffentlichkeit verbindet mit dem Begriff „Bayrische Räterepublik“ die Vorstellung furchtbarer Greuel- und Bluttaten, die ihren Gipfel im „Geiselmord“ fanden.
Es wissen nur wenige, daß das Blut- und Greuelregiment, wie so oft, logificatio post festum, Sinngebung von nachhinein ist, nicht zuletzt, um die Taten der Weißen zu rechtfertigen.
Erinnern Sie sich noch an die Tatarennachricht Berliner Blätter, daß Gustav Landauer in München die Weiber sozialisiert habe? Erinnern Sie sich an die Meldungen, daß der Münchner Bahnhof aus Mutwillen von Rotgardisten in Brand geschossen sei, daß die Rote Armee in der Ludwigstraße Schießübungen auf lebende Ziele veranstaltet habe, daß Mädchen vergewaltigt, Frauen die Brüste abgeschnitten worden seien, und wie das Arsenal der Phrasen heißt, das gewisser Tagesschreiber unverlierbarer Besitz ist?
Wie kam es zur Erschießung der Gefangenen im Luitpold-Gymnasium?
Handelte es sich im Luitpold-Gymnasium wirklich um „Geiselmord“?
Sieben der neun Erschossenen gehörten der Thule-Gesellschaft an, einer völkischen Organisation, die in München die Konterrevolution organisieren half, und in deren Besitz man gefälschte Stempel der Räterepublik gefunden hatte.
Ich habe um die Tat nicht gewußt, habe sie verurteilt, als ich von ihr Kenntnis bekam, habe persönlich, nicht ohne Gefahr, die letzten Gefangenen befreit, darum sei mir die Frage erlaubt: Was hätten Weiße getan, wenn ihnen Revolutionäre mit gefälschten Stempeln in die Hände gefallen wären? Behaupte ich zuviel, wenn ich sage, daß Weiße die Gefangenen planmäßig und überlegt hätten niederknallen lassen, in der Überzeugung, sie seien dazu legitimiert? Aber die Täter im Luitpoldgymnasium haben in einem Zustand furchtbarer Erregung gehandelt. Allzu rasch hat die deutsche Öffentlichkeit vergessen, daß die Weißen in jenen Tagen viele Hunderte harmloser Menschen, oft auf bloße Denunziation hin, töteten.
Einen Tag vor der Tat im Luitpoldgymnasium wurden wahllos Sozialisten in Starnberg ermordet. Ein roter Sanitäter, der in die Hände der Weißen gefallen war, wurde sofort erschossen. Waffenlose Rotgardisten, gefangen von preußischen Freikorps in Dachau, füsilierte man ohne Urteil, nachdem sie eine halbe Stunde Kniebeuge hatten machen müssen. Ich würde diese Einzelheiten nicht erwähnen, hätten sie mir nicht verschiedene Zeugen bestätigt.
Mein Zellennachbar Sch., einer der in Starnberg zum Tode Verurteilten, erzählt mir: „Kein Zweifel mehr, der Zusammenbruch war da. Schon in der Frühe um 6 Uhr weckte mich dumpfer Kanonenschlag; bald konnte ich das Tacken der Maschinengewehre und das Knattern des Infanteriefeuers vernehmen. Um 8 Uhr klingelte das Telephon. Ein kleiner Beamter des städtischen Gerichts: ‚Herr Sch., die Truppen des Generals Epp stehen vor Starnberg. Sie erschießen rücksichtslos jeden Revolutionär, der mit der Waffe in der Hand betroffen wird. Machen Sie schleunigst, daß Sie davonkommen.‘ Ich dankte.
Ich hörte schwere Schritte die Treppe heraufkommen. Es waren jedoch keine weißen Soldaten, sondern zwei junge Mitglieder der Bürgerwehr, die beim Einrücken der Truppen wie aus dem Boden gewachsen auf einmal da waren und den Weißgardisten bei Verhaftungen und ähnlichem an die Hand gingen.
Als ich mit meinen beiden ‚Beschützern‘ aus dem Hause trat, bog um die Ecke ein Leutnant mit etwa einem Dutzend Stahlhelmsoldaten. Der Leutnant in Friedensuniform, Monokel, ja wahrhaftig Monokel. Eine knarrende Stimme: ‚Sie sind Herr Sch.?‘ ‚Jawohl, Herr Leutnant.‘ ‚Sie sind festgenommen!‘ Ein Wink – die beiden Bürgerwehrleute treten weg, zwei Stahlhelmer nahmen mich in die Mitte. Jetzt war ich über mein Schicksal klar.
Bald stand ich vor dem Kommandeur der Spitzentruppen. ‚Sind Sie der Vorsitzende des revolutionären Arbeiterrats?‘ ‚Jawohl!‘ Der Major stampfte mit dem Fuß auf den Boden: ‚Tun Sie Ihre Hand aus der Tasche!‘ Ich habe einen verkrüppelten Arm, dessen Hand ich meist in der Tasche trage. ‚Herr Major, Sie sind nicht mein Vorgesetzter.‘ Kaum hatte ich dies gesagt, hagelten von allen Seiten Hiebe auf mich ein. Mit Handgranatenstielen, Gewehrkolben, Reitpeitschen, Kommißschuhen schlug und stieß man auf mich ein. Blutend sank ich zu Boden, man hätte mich wohl auf dem Platz erschlagen, wenn mich nicht ein Bekannter, ein in Starnberg ansässiger österreichischer Offizier aus dem Haufen der wütenden Mannschaften hervorgezogen und Einspruch gegen die barbarische Mißhandlung erhoben hätte. Die Soldaten ließen von mir ab. Man schleppte mich halb bewußtlos ins Gefängnis. Nach einer halben Stunde wurde ich in das Büro des Gefängnisverwalters hinuntergeführt. Ein Hauptmann und ein Unteroffizier saßen an einem Tisch, auf dem einige von mir unterzeichnete Aufrufe und Verfügungen lagen. Nach Erhebung der Personalien wurde ich gefragt, ob ich die Aufrufe unterzeichnet hätte. Ich gab dies natürlich zu. ‚Dann haben Sie Hochverrat begangen.‘ Nach einer kurzen Pause: ‚Sie sind zum Tode verurteilt. Abführen.‘
Ein formloses Verhör. Nachher erfuhr ich, daß dies das – Feldgericht war. Ein Feldgericht, besetzt mit einem Richter. Es war mittlerweile 4 Uhr geworden. Da begann die schrecklichste Stunde meines Lebens.
Zwei Stahlhelmleute kamen die Treppe heraufgestürmt: ‚Sie werden erschossen!‘ Ein Leutnant stand auf dem Treppenabsatz und schleuderte mich die Treppe hinab. ‚Heraus mit dir, Bürschel!‘
Ich raffte mich auf, trat aus dem Gefängnis auf die Straße. Ein Offizier sprang auf mich zu. Auf das Gefängnis deutend, schrie er mich an: ‚Was tun Sie da drinnen? Marsch in die Reihe!‘ In die Reihe? Ja, da standen sie, mehr als zwanzig junge, zum größten Teil verbundene, also verwundete Rotgardisten und Arbeiter, umgeben von je zwei Reihen weißer Soldaten. Das Exekutionspeloton! Ich weiß nicht, wie lange wir so standen.
Der Führer des Zuges schien noch auf etwas zu warten. Richtig, da erschien der Vorstand des Bezirksgerichts. Er trat auf mich zu, zog sein Notizbuch, fragte jeden der Todeskandidaten nach seinem Namen; auch den meinigen schrieb er auf. Fein säuberlich, sine ira et studio. Ein Kommandoruf, ein ganz kurzer Trommelwirbel.
In diesem Augenblick packte mich das Grauen.
Ich behielt meine Haltung ganz automatisch, wie eine Puppe, die man in eine bestimmte Stellung gebracht hat. Der Zug bewegte sich über den Hauptplatz. Hunderte von Menschen als Zuschauer. Der Zug näherte sich der Bleichwiese, der Exekutionsstätte.
Dann kam etwas ganz Schreckliches. Da stand mitten in der Straße ein großer grauer Wagen. Der schwenkte vor der Spitze unseres Zuges ein, fuhr vor uns her. Ein eigentümlicher Geruch ging von ihm aus, wie der süßliche Karbolgeruch von desinfiziertem Verbandszeug. Wir brauchten kein Verbandszeug mehr.
Der Wagen schien größer, immer größer zu werden. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dieser Wagen, grau und riesengroß, ist der Abschluß meines Lebens.
Wir standen auf der Bleichwiese. Diese wird im Westen durch einen Bahndamm abgeschlossen. In einer Entfernung von hundert Metern standen Scharen Neugieriger.
Wir wurden mit dem Rücken gegen den Bahndamm gestellt. Soldaten nahmen in einer Entfernung von etwa acht Metern vor uns Aufstellung. Da stürzt einer von uns zu dem Leutnant, der das Peloton kommandierte. Hastig, mit der Stimme sich mehrmals überschlagend, stammelte er: Während des Krieges U-Boot-Matrose in der Kaiserlichen deutschen Marine – nach der Demobilisierung arbeitslos – auch der Vater war arbeitslos, – die Mutter krank – was die rote Armee bezweckte, wüßte er nicht, aber Hunger tut weh – so sei er der roten Garde beigetreten. Er bat, er flehte, es half ihm nichts, Stahlhelmleute stießen ihn in die Reihe zurück.
In diesem Moment geschah etwas Unerwartetes. Die infolge des Vorfalls mit dem U-Boot-Matrosen entstandene Verwirrung nutzte ein anderer entschlossen aus: ein Sprung, zwei Stahlhelmleute taumelten zur Seite, ein dritter erhielt einen Schlag ins Gesicht, daß ihm das Blut aus der Nase rann. Ein Moment allgemeiner Überraschung, einige Soldaten schossen mit Gewehr und Revolver dem Fliehenden nach, trafen nicht, andere liefen dem Ausreißer nach, hinderten aber dadurch die Zurückbleibenden, weiter auf den Flüchtling zu schießen. Dieser, dem die Todesangst Windesschnelle verlieh, lief den Sümpfen der Würm zu. Erreichte er das hohe Schilf, so war er gerettet. Im letzten Augenblick noch scheint ein Hindernis ihn aufzuhalten. Ein Arbeiter stellt sich mit ausgebreiteten Armen dem Fliehenden in den Weg, um ihn aufzuhalten und den Henkern zurückzugeben. Die Todesfurcht gab Riesenkräfte. Der Kerl erhielt einen Stoß, daß er mehrere Meter zurücktaumelte. Der Flüchtling erreichte das schützende Schilf.
Die Aufmerksamkeit der Henker wandte sich nun wieder uns zu. Der Offizier deutete auf mich: ‚Dies ist der Rädelsführer, der muß erst zusehen, wie es geht!‘ Ich wurde zur Seite geführt.
‚Hände hoch!‘ Die Armen hoben die Hände in die Höhe. ‚Ihr habt die Waffe getragen gegen eure rechtmäßige Regierung, darauf steht die Todesstrafe.‘ Ein halblautes, dünnes Wimmern war die Antwort. Mir stand das Herz still, ich wandte mich halb zur Seite, um nichts zu sehen. Eine Waffe getragen? Ich hatte gleich andern nie eine Waffe getragen. Da ertönte die Stimme des Offiziers: ‚Revolver links und rechts an seine Schläfen. Willst du hinschauen, du Hund!‘
Ich mußte mich dem Zwange fügen, sah hin und sah die Unglücklichen zusammenbrechen, sie fielen hintenüber wie die Säcke. Nach der ersten Salve noch einige unregelmäßig abgefeuerte Schüsse. Einer schrie noch nach dem zweiten Schuß. Da trat ein Soldat bis auf zwei Meter an ihn heran und gab ihm den Fangschuß.
Der Offizier wandte sich zu mir.
Da keuchte jemand zu mir heran: ‚Herr Sch., Sie werden nicht … Herr Leutnant, warten … da!‘ Er deutete auf die Straße, die wir gekommen waren, da lief ein Mann aus Leibeskräften, schon von weitem mit einem weißen Zettel winkend. Es war der Ortsvorsteher. Wortlos reichte er dem Offizier das Papier. Dieser las, machte ein enttäuschtes Gesicht.
‚Der Mann ist in das Gefängnis zurückzuführen, er wird dem ordentlichen Gericht unterstellt.‘
Ich wurde ins Gefängnis zurückgeführt.
Ich war wieder in meiner Zelle. Erschöpft sank ich aufs Lager. Ich war gerettet.
Um 10 Uhr besuchte mich ein guter Freund. Von ihm erfuhr ich, daß noch einer der zum Tode Verurteilten gerettet worden war. Diesen Mann hatten zwei Lungenschüsse nicht getötet. Nach mehreren Stunden gab er noch Lebenszeichen von sich. Rohe Soldaten wollten dem Bedauernswerten, der wie die anderen Erschossenen von den Hütern der Ordnung bis auf Hemd und Hose ausgeraubt worden war, vollends den Garaus machen. Ein junger Lehrer und dessen Bruder luden ihn jedoch schleunigst auf eine Tragbahre und brachten ihn ins Krankenhaus. Den Soldaten, die nach einigen Minuten die Herausgabe des ihnen entrissenen Opfers forderten, wehrte der Arzt den Eintritt.“