#106 Brief an Der Kampf (München)
Datierung | 1920-??-?? |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 306). |
Poststelle | - |
Personen |
Der Kampf (München)
Toller, Ernst |
An den Herausgeber der Zeitung „Kampf“.
Alle deutschen sozialistischen Zeitungen ohne Unterschied der politischen Richtung begehen den Fehler, mit der Weltrevolution als einem Ereignis der nahen Zukunft zu rechnen. Ist von einem Streik in England oder Frankreich die Rede, so wird dieser Streik als Auftakt zur revolutionären Erhebung gedeutet. In Deutschland werden Hoffnungen erweckt, die, weil sie sich nicht erfüllen können, zu Enttäuschung und Müdigkeit führen müssen. Der Politiker darf nicht den Wünschen und Selbsttäuschungen der Masse schmeicheln. Der Politiker hat die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit.
Es war der Grundfehler der deutschen Regierung während des Krieges, dem Volke die Wahrheit zu verheimlichen.
Außer wenigen Eingeweihten wußte niemand, daß es eine Schlacht an der Marne gegeben hat. Das Volk glaubte, daß ein Sieg dem andern folgte. Als es zum Schluß die Wahrheit erfuhr, war der Bruch unaufhaltsam. Wir sollten von den Engländern lernen, die während des Krieges ständig die Lage in ihrer Schwere dem Volke gezeigt haben.
Die Revolutionsromantiker werden mir vorwerfen, daß ich nicht an die Weltrevolution glaube, und am Schluß werden sie mich dafür verantwortlich machen, daß die Weltrevolution nicht schon morgen da ist.
Das ist mir gleichgiltig. Solche Angriffe erinnern mich an das Verhalten eines Freundes meiner Kindheit. Wir stritten uns darüber, ob es regnen, oder ob die Sonne scheinen würde. Er glaubte an die Sonne, ich glaubte an den Regen. Als es dann schließlich doch regnete, warf er mir seinen Strohhut an den Kopf und sagte, ich sei schuld, daß es regne.